Jahrgang 2017 Nummer 36

Das Bayerische Armeemuseum erinnert an die Soldaten

Ein Teil der Sonderausstellung ist Franz Murr aus Waging am See gewidmet

Der junge Franz Murr aus Waging am See verlor als Soldat im Ersten Weltkrieg sein Leben.
Das Bayerische Armeemuseum in Ingolstadt.
Museum des Ersten Weltkriegs im Reduit Tilly, Ingolstadt.
Die Sonderausstellung mit Franz Murr ist seit Mai bis zum Jahr 2020 zu sehen.
»Auch hier beherrscht Kriegsgott Mars die Stunde. Alles Interesse an den häuslichen Angelegenheiten schwindet«, schreibt das Ingolstädter Tagblatt 1914. Die Stadt an der Donau, nach München die größte Garnisonsstadt Bayerns, spielte im Ersten Weltkrieg eine zentrale Rolle als »Hauptlandesfestung«. Von hier aus wurden zehntausende Soldaten in den Kriegseinsatz geschickt. Die Zeitungen berichteten darüber allerdings nur eingeschränkt, denn ab 1. August 1914 herrschte auch in Ingolstadt Pressezensur. So steht es auf einem der eingängigen Informationsblätter, die das Bayerische Armeemuseum für seine Besucher bereithält. Es ist somit kein Zufall, dass eine der weltweit größten Dauerausstellungen zum Ersten Weltkrieg ausgerechnet in Ingolstadt zu sehen ist.

Im Reduit Tilly, einem Festungsbau aus dem 19. Jahrhundert, befindet sich das »Museum des Ersten Weltkriegs«. Die Kasematten (Festungsgewölbe) sind zu Ausstellungsräumen umfunktioniert und führen auf 30 Stationen durch die historischen Epochen, angefangen mit der Zeit des Imperialismus 1880 bis zum Ende des Krieges 1918. Die Entwicklung des Deutschen Reiches und seine innere Problematik, die Großmächte in ihrem Ringen um die Weltherrschaft, all das kommt als Ursache für den Kriegsausbruch ebenso in den Blick wie der gesellschaftliche Status des einzelnen Soldaten, die hohe Bedeutung des militärischen Pflichtbewusstseins oder der tief verankerte Konservatismus der Armee in Deutschland. Die militärischen Ereignisse finden sich prägnant zusammengefasst, politische, wirtschaftliche oder ideologische Hintergründe werden erläutert, die Bedeutung des Geschehens wird interpretiert und knapp und klug kommentiert.

Bei all dem gibt es keine langweiligen Reihen von Tafeln mit ermüdend viel Text – vielmehr werden die Besucher mit allen Sinnen angesprochen und teilweise regelrecht ergriffen. Dafür sorgen die zahlreichen Dokumente wie Original-Zeitungsausschnitte (etwa die Ansprache des Königs »An meine Bayern«), Gemälde von Schlachtfeldern und vor allem die vielen authentischen Erinnerungsstücke, welche das Kriegsgeschehen und auch das Kriegsgrauen anschaulich machen. Man durchläuft die zeitlichen Epochen und findet sich unvermutet im labyrinthischen Dunkel des Schützengrabens wieder. Im Frühjahr 1915 setzten die Deutschen in Flandern erstmals den Giftstoff Chlorgas als Kampfmittel ein. Die Betrachtung der Exponate – verschiedenste Originalwaffen, Leuchtpistolen, Gasmasken – bringen die Technik nahe und lassen einen zugleich erschaudern: So also funktioniert das Handwerk des Todes. Ob Entwicklung von Innovationen wie Luftangriffe und zunehmende Feuergeschwindigkeit, Strukturen der zeitgenössischen Rüstungsindustrie oder auch die Konkurrenz zwischen verschiedenen Modehäusern für Militärbedarf – die Vielfalt des Dargestellten in den abwechslungsreich gestalteten Räumen macht den Besuch für jedermann, insbesondere auch für Schulklassen und Heranwachsende gemeinsam mit ihren Eltern zu einem ebenso lehrreichen wie nachdrücklichen Erlebnis.

So lässt sich etwa die Ausrüstung der Soldaten nicht nur im Detail studieren – man bekommt im Selbstversuch auch eine handgreifliche Ahnung davon, was es heißt, mit einem 30 Kilogramm schweren Rucksack täglich 25 Kilometer marschieren zu müssen. Was Verpflegung und Mangelwirtschaft bedeuten wird ebenso nahegebracht wie die Frage, wie die Kommunikation funktioniert hat oder wie die Feldpost organisiert war, welche Rolle die Kirche spielte und wie es den Frauen in den Kriegsjahren erging. Sie leisteten nicht nur als Krankenschwestern und Sanitäterinnen unverzichtbare Dienste, sondern wurden auch massenhaft als Arbeitskräfte in der Rüstungsindustrie eingesetzt, erhielten dabei aber höchstens 70 Prozent des Männerlohns, waren von Armut und Obdachlosigkeit bedroht. Wie Familien mit dem Tod ihrer Söhne konfrontiert, Hinterbliebene mit Beihilfen versorgt oder auch abgespeist wurden, darüber schweigt die Ausstellung nicht, und auch nicht darüber, dass hinter der öffentlichen Verklärung des »ehrenhaften Heldentodes« junge Männer mit Verstümmelungen, gasgeschädigten Lungen oder erkrankt an der Spanischen Grippe elend zugrundegingen.

Auch dem Thema Kriegsgefangene widmet sich ein Ausstellungsraum. Fast eine Million deutsche Soldaten gerieten in Kriegsgefangenschaft, 150000 von ihnen kamen darin ums Leben. In Deutschland starben etwa 135000 Kriegsgefangene aus anderen Ländern. Sie wurden zumeist Opfer der schlechten Ernährungslage. Unter ihr hatte auch die Bevölkerung zu leiden: 700000 Deutsche starben an Unterernährung. Kriegsverdrossenheit, die drohende militärische Niederlage, Waffenstillstand und Revolutionsereignisse 1917 und 1918 sowie die grundlegende Umgestaltung Europas bilden den Abschluss der Ausstellung. »Mit 10 Millionen Toten und Kosten in Höhe von 260 Milliarden Dollar war der 1. Weltkrieg der Kulminationspunkt des Imperialismus«, bilanzieren die Ausstellungsmacher. Das Jahr 1917 markierte auch den Beginn des Aufstiegs der zwei hegemonialen Weltmächte Sowjetunion und USA. Konkurrenzdenken und Kriegsbereitschaft ihrer politischen Führer und mächtiger Interessen im Hintergrund prägen die gesellschaftlichen Verhältnisse spürbar bis in unsere Gegenwart hinein. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Der Ausstellung gelingt es auf beeindruckende Weise, den Krieg anschaulich zu machen und zugleich distanziert zu analysieren; sie nimmt weltpolitische Ereignisse, die Auswirkungen gesellschaftlicher Ideologien und das hautnahe Erleben der Menschen gleichermaßen in den Blick. Ein Beispiel dafür ist Franz Murr aus Waging am See: Dem 1895 geborenen, jungen Mann, der mit 22 Jahren im Krieg sein Leben ließ, ist ein Teil der Sonderausstellung gewidmet. Sie trägt den Titel »Verheizt, vergöttert, verführt - Die deutsche Gebirgstruppe 1915 bis 1939« und ist seit Mai ebenfalls im Reduit Tilly zu sehen. Franz Murr war eines von acht Kindern der Waginger Posthalterfamilie. Mit 19 zog er freiwillig – jedoch zunächst gegen den Willen des Vaters – in den Krieg und wurde Soldat des 1. königlich-bayerischen Infanterieregiments. Nach einer Verwundung wurde er im August 1916 als Gefreiter zum Deutschen Alpenkorps versetzt, mit dem er am Roten-Turm-Pass in Rumänien kämpfte und dabei erneut verwundet wurde. 1917 war er an der italienischen Front am Isonzo im Einsatz. Hier gelang den Verbündeten ein spektakulärer Durchbruch, der weniger der konventionellen Artillerie zu verdanken war als vielmehr auf den chemischen Kampfstoff zurückging, der massiv gegen die Italiener eingesetzt wurde. Im Zuge der ersten Piave-Schlacht fiel Franz Murr am 19. November 1917 beim Sturm auf den Monte Tomba durch ein Infanteriegeschoss. Seine Leiche wurde nie gefunden.

 

Von den verschiedenen Einsatzorten hatte der junge Murr viele Briefe an die Geschwister und Eltern ins heimische Waging geschickt. Die Familie bewahrte diese Dokumente sorgfältig auf. Der Neffe Hans Lampertsdörfer spürte dem Schicksal seines Onkels nach und hat Tagebuch und Briefe 2017 anlässlich des 100. Todestages von Franz Murr mit Fotos versehen und als Buch veröffentlicht. Im Ingolstädter Armeemuseum werden Bilder, eine Feldpostkarte mit der Todesnachricht an die Eltern und persönliche Erinnerungsstücke wie Murrs Grabendolch gezeigt. Auf diese Weise bekommt der Krieg und bekommen die vielen Menschen, die im Krieg »verheizt« wurden, ein Gesicht.

 

Heike Mayer

 

36/2017