Carry Brachvogel: Schriftstellerin, Salondame, Frauenrechtlerin
Die Münchner Berühmtheit zog es immer wieder nach Teisendorf






Wer durch München-Bogenhausen spaziert, ist vielleicht schon einmal an der Carry-Brachvogel-Straße vorbeigekommen und mag sich gefragt haben, wer hinter diesem klingenden Namen steckt. Die benachbarten Straßen – nach Else-Lasker-Schüler und Marie-Luise-Kaschnitz benannt – legen nahe, dass es sich um eine Schriftstellerin handelt. Und dazu um eine beeindruckende Persönlichkeit: Karoline ›Carry‹ Hellmann, 1864 in München geboren, heiratete mit 23 den Redakteur der Münchner Neuesten Nachrichten, Wolfgang Brachvogel; als der fünf Jahre später bei einem Unfall ums Leben kam, begann die Mutter zweier kleiner Kinder, durch Schreiben ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und wurde bald eine berühmte Roman-Autorin!
1894 kam ihr Erstlingswerk, das Schauspiel »Vergangenheit« auf die Bühne, im Jahr darauf erschien ihr Debütroman, »Alltagsmenschen«. Seitdem veröffentlichte sie fast jedes Jahr ein weiteres Buch. 1913 gründet sie zusammen mit Emma Haushofer- Merk den Verein Münchner Schriftstellerinnen, sie engagiert sich für eine angemessene Bezahlung schreibender Frauen, aber auch für bessere Arbeitsbedingungen von Schauspielerinnen. An zentraler Stelle, direkt am Siegestor, führt sie einen literarischen Salon – eine angesehene Institution des Münchner Kulturlebens. Ihre Bücher finden deutschlandweit Beachtung und Anerkennung.
Doch was hat das alles mit Teisendorf zu tun? Sehr viel: Um die Jahrhundertwende kommt Carry Brachvogel zum ersten Mal als Sommergast hierher – und kehrt anschließend immer wieder zurück. Manchmal hält sie sich mehrere Monate hier auf, sucht Erholung und findet Ideen und Anregungen für ihre Bücher, an denen sie hier ebenfalls arbeitet und schreibt. Unterkunft findet sie in der Poststraße, in jener alten, prachtvoll bemalten Villa, an die sich ältere Teisendorfer noch gut erinnern. Der Gründer der Teisendorfer Feuerwehr, Josef Hitzinger, hatte sie 1871 erbaut. Er war Maler, wie schon sein Vater Johann und sein Großvater Thomas, an der Hauswand prangte stolz der Schriftzug »Haus Josef Hitzinger«. Seine Tochter Marianne heiratete 1910 den aus Moosburg stammenden Anton Vitzthum (1877 - 1931), der ebenfalls Maler war. Vermutlich von ihm stammen die Szenen aus dem Leben des heiligen Antonius an den Hauswänden, weshalb das Hitzinger-Haus auch Vitzthum-Haus oder Antonius-Haus genannt wurde. Das Paar blieb kinderlos, nach dem Tod Mariannes 1957 kam das Haus in den Besitz der Kirche, die es 1963 abreißen ließ. An der Stelle stehen heute Pfarrhof und Pfarrheim St. Andreas.
Teisendorf ist für Carry Brachvogel der Dreh- und Angelpunkt, wenn sie auf Entdeckungsreise »Im Weiß- Blauen Land« geht. So der Titel ihres 1923 erschienenen Buches mit »Bayerischen Bildern«, darunter die feuilletonistische Beschreibung »bayerischer Kleinodien« – Fraueninsel, Kloster Seeon und Höglwörth: »Das dritte Kleinod erreicht man, indem man entweder den Rückweg über den Chiemsee bis Prien und von da den Bummelzug bis Station Teisendorf nimmt oder man fährt mit der Schneckenpost bis Endorf und von dort nach Teisendorf, das wie ein stiller Wächter vor eine der anmutigsten Idyllen Bayerns tritt, den verborgenen Schatz so wohl hütet, daß nur wenige seinen Namen kennen. Von Teisendorf erreicht man in kaum anderthalb Gehstunden Höglwörth, erreicht es auf einem Weg, der über kleine Bäche, blumenstrotzende Moorwiesen und dunkle Waldschluchten führt und immer wieder an Schwind’sche Landschaften erinnert.« Im Kapitel »Almtanz« schildert sie detailliert und anschaulich einen Schuhplattler- und Tanzabend des Gebirgstrachtenerhaltungsvereins im örtlichen Gasthof. Solche Heimatabende wurden auch damals schon für Sommergäste veranstaltet und fanden anscheinend großen Zulauf. Zwar wird der Ortsname Teisendorf hier nicht erwähnt, doch könnte es sich durchaus um ›D’Raschenberger‹ handeln.
Ihr schriftstellerisches Werk ist mit 40 Veröffentlichungen nicht nur umfangreich, sondern auch sehr vielseitig: Romane, Feuilletons, Jugendbücher, fantastische Geschichten ... In Biographien nimmt Carry Brachvogel Figuren der Weltgeschichte in den Blick, wie Maria Theresia, die Pompadour, die Zarin Katharina oder Robespierre, aber auch »Alltagsmenschen« wie Kellnerinnen, Kindermädchen und Trambahnschienen-Putzerinnen. 1917 erscheint »Schwertzauber« – Thema ist der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die Handlung spielt in München und Seeon. Die Literaturwissenschaftlerin Ingvild Richardsen hat den Roman 2014 neu herausgegeben. Sie vermutet, Carry Brachvogel hat ihn teilweise in Teisendorf geschrieben und hier fertiggestellt.
Auch nach dem Krieg finden wir die Schriftstellerin in Teisendorf wieder – der Aufenthalt im Sommer 1919 endet allerdings mit einem Desaster. Es herrschen Wohnungsnot und Lebensmittelknappheit, am Bahnhof wird das Gepäck abreisender Sommerfrischler auf verbotene Lebensmittelausfuhr durchsucht. Für einen Aufenthalt, der länger als drei Tage dauert, müssen Gäste eine Erlaubnis vom Bezirksamt Laufen vorweisen. Im Zuge der Räterepublik hatte der Arbeiterrat die örtliche Gewalt an sich genommen. Statt ihrem Gesuch um verlängerten Aufenthalt stattzugeben, ordnet der »fremdenfeindliche« Arbeiterrat die Ausweisung Carry Brachvogels an, wie sie später von München aus in einem Brief an eine Bekannte empört berichtet. »Der Arbeiterrat verfügte: ›Brachvogel hat bis längstens 31. Juli abzureisen!‹ Was sagen Sie dazu? Nachdem ich seit 20 Jahren dort Sommergast bin, hat die Gemeinde nicht den Mut, gegen zwei Proleten aufzutreten und zu sagen: In diesem Fall muss eine Ausnahme gemacht werden.«
Doch die Autorin ist auf dem Höhepunkt ihres Schaffens und lässt sich nicht unterkriegen. Sie weicht nach Berchtesgaden aus und kehrt dann nach München zurück, um weiter am »Rohbau« ihres neuesten Werkes zu arbeiten. Ein Verlag plant die Neuauflage eines früheren Romans, ein anderer beauftragt sie, über die Frau in der Politik zu schreiben. 1920 erscheint »Eva in der Politik. Ein Buch über die politische Tätigkeit der Frau«.
»Im Weiß-Blauen Land« ist Ausdruck ihrer Heimatliebe zu Oberbayern. Doch das bloße Schwelgen in der Idylle ist ihre Sache nicht. Für heutige Leser ist es spannend, wie sich in den Texten, die vor hundert Jahren entstanden, aktuelle und drängende Fragen unserer Zeit wiederfinden. Was bedeutet es, Krieg zu führen, wohin führt zügelloses Gewinnstreben, wie sieht eine gerechte Entlohnung von Frauen aus? In dem Feuilleton »Verschwiegene Gärten« beschreibt sie das Verschwinden der Hausgärten im damals noch ländlich geprägten Stadtteil München-Bogenhausen und in Schwabing und bringt die Problematik der unaufhaltsam fortschreitenden Bodenversiegelung zur Sprache. »Ist es nicht ein trauriger Gedanke, daß fast jedes neue Haus das Grabmal eines blühenden Stück Landes darstellt? Allzu oft haben wir es ja mitangesehen, wie die Stadt auf ihren steinernen Füßen unbarmherzig weiterstapfte, Rasen aushob, Bäume entwurzelte, blühende Hollunderbüsche zertrat...«
Das Gesamtwerk von Carry Brachvogel gleicht einem solchen bunten, blühenden Garten, der dem Untergang geweiht war. Ihr Leben endet traurig. 1933 verhängt das NS-Regime über die jüdische Schriftstellerin ein Publikationsverbot. Gemeinsam mit ihrem Bruder Siegmund – auch der Geschichtsprofessor darf seinen Beruf nicht mehr ausüben – lebt sie zurückgezogen in München. Gemeinsam werden die beiden am 22. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Wenige Monate darauf, am 20. November, stirbt Carry Brachvogel im Konzentrationslager, an »Altersschwäche«, wie es offiziell heißt. Auch ihr Bruder stirbt noch im selben Jahr.
Person und Werk gerieten völlig in Vergessenheit, bis Ingvild Richardsen sie wiederentdeckte. Seit 2012 hat sie einige ihrer Bücher neu herausgegeben. Alte Ausgaben werden nachgedruckt und sind wieder auf dem Buchmarkt präsent. 60 Jahre nach ihrem Tod hat die Stadt München eine Straße in Bogenhausen nach ihr benannt. In der Seidlvilla in Schwabing gibt es einen »Carry Brachvogel Salon«. Für das Frühjahr 2018 plant Ingvild Richardsen in der Monacensia eine Gedenkausstellung. Und wer weiß, vielleicht findet auch die Gemeinde Teisendorf einen Weg, die Erinnerung an ihren einst berühmten Sommergast wiederzubeleben.
Dr. Heike Mayer
4/2017