Carl Spitzweg: »Leben ist die Lust zu schaffen«
Apotheker- gegen Malerkittel vertauscht – Vor 205 Jahren geboren




Wäre es nach seinem Vater gegangen, Carl Spitzweg hätte weder den armen Poeten noch all seine anderen skurrilen Szenen aus dem biedermeierlichen Alltag auf die Leinwand gebracht. Spitzweg Senior hatte für seinen 1808 geborenen, mittleren Sohn, genau wie für dessen Brüder nämlich genau festgelegt, welche beruflichen Laufbahnen sie einzuschlagen hatten. Simon als der Älteste sollte das väterliche Geschäft übernehmen, Carl Pharmazie und Eduard Medizin studieren. Da der Spezereienhändler Simon Spitzweg als unnachgiebiger Familienvorstand galt, »dessen Humor nicht zu den importierten Waren gehörte«, wie Carl Spitzwegs Biograph Carl Albert Regnet später sarkastisch bemerkte, fügten sich die Söhne dann auch dem väterlichen Befehl. Zum großen Pech für Papa Spitzweg und wahrscheinlich zum Glück für seine Söhne segnete der Patriarch aber 1828 mit nur 52 Jahren das Zeitliche.
Carl befand sich damals noch in der Ausbildung, die er, obwohl der Vater inzwischen gestorben war, brav mit dem Studienabschluss 1833 zu Ende brachte. Im gleichen Jahr vertauschte er dann aber den Apotheker- gegen den Malerkittel, um sich, als vollkommener Autodidakt, zu einem der bekanntesten deutschen Künstler des 19. Jahrhunderts zu entwickeln.
Im Gegensatz zu vielen anderen Malern und Schriftstellern hatte Spitzweg das Glück, aufgrund seines Erbes finanziell so gut zu stehen, dass er sich um seinen Lebensunterhalt nie Gedanken zu machen brauchte. Denn nicht nur sein Vater, auch seine Mutter, Franziska Schmutzer, stammte aus einer wohlhabenden Bürgerfamilie. Die Spitzwegs waren seit Generationen in Unterpfaffenhofen bei Germering beheimatet und dort als Wirtsleute und Posthalter tätig.
Simon senior hatte den Beruf des Kaufmanns erlernt und 1804 das Bürgerrecht der Stadt München erworben. Kurz darauf heiratete der 28-Jährige die sechs Jahre jüngere Franziska, Tochter eines reichen Münchner Früchtegroßhändlers. Die frischgebackenen Eheleute erwarben ein Haus an der Ecke Neuhauserstraße/Eisenmanngasse und eröffneten dort ein Handelsgeschäft für »Tuch-, Wollen-, Baumwollen-, Seiden- und Spezereinwaren.«
Simon Spitzweg fasste auch gesellschaftlich schnell Fuß in München, er fungierte lange Jahre als Beisitzer am Handelsgericht sowie als Mitglied des Magistrats (= Stadtrat). 1818 wählte ihn die Stadt München als Vertreter in den Bayerischen Landtag. Für seine Zeit ungewöhnlich, machte sich Simon Spitzweg als Magistratsrat unter anderem für die Errichtung einer höheren Mädchenschule in München stark. »Unstreitig kleiden Kenntnisse die Frau ebenso gut wie den Mann …«, formulierte er dazu in einem Schreiben an die Regierung. 1822 hatte Spitzwegs Ansuchen mit der Gründung der »Höheren Töchterschule«, einem Vorläufer des Luisengymnasiums tatsächlich Erfolg.
Im privaten Bereich lief es für die Spitzwegs dagegen weniger rund, denn 1819 starb die Mutter mit nur 36 Jahren. Noch im gleichen Jahr heiratete der Witwer die Schwester seiner verstorbenen Frau, Kreszentia, die nun Alleinerbin der elterlichen Großhandlung war. Aus heutiger Sicht vielleicht merkwürdig, nannten die Buben, die ja nicht mehr im Kleinkindalter waren, ihre Tante ohne Zögern »Mutter«, genauso wie sie nach dem Tod des Vaters den neuen Ehemann der Tante/ Stiefmutter ohne Umstand mit »Vater« anreden würden.
Während Carl die Lateinschule besuchte und brav sein Abitur ablegte, um anschließend als Lehrling unter dem gestrengen Dr. Franz Xaver Pettenkofer – einem Onkel Max von Pettenkofers – in die Königliche Hof- und Leibapotheke einzutreten, stieg sein Bruder Simon aus der väterlichen Planung aus. Spätestens seit 1826 hielt sich der älteste der drei Brüder in Ägypten auf. Zwar arbeitete er in Alexandrien in einem »angesehenen Handelshaus«, doch mit der Übernahme des väterlichen Betriebs schien der Junior nichts am Hut zu haben. Im Oktober 1827 ist in der Zeitschrift »Flora« nämlich folgende Anzeige zu lesen: »Es ist eine gutgehende Spezerei-Waren-Handlung in München zu verkaufen oder zu verpachten.« Unterzeichnet: Simon Spitzweg. Gut ein Jahr später waren sämtliche Pläne dann sowieso hinfällig, denn innerhalb weniger Monate stirbt zuerst der Vater, kurz darauf erliegt Sohn Simon im April 1829 in Kairo der Pest.
Während Simon also dem väterlichen Wirkungskreis entflohen war, hatten Carl und Eduard auf ihre Art reagiert und ein brüderliches Bündnis geschlossen, um gemeinsam die häuslichen Querelen mit dem übermächtigen Vater zu überstehen. Dabei entstand eine enge Bindung mit lebenslangem Bestand, die sicher auch durch ähnliche Interessen gefördert wurde; während Carl sich der Malerei zuwandte, betrieb Eduard ab 1837 eine Musikalienhandlung – womit also auch er die Pläne seines alten Herren durchkreuzte, der ihn ja als Arzt gesehen hatte. Zuvor hatte Eduard mindestens vier Jahre in Triest als Prokurator gearbeitet, später dann in gleicher Funktion in Ödenburg in Ungarn, ehe er wieder nach München zurückkehrte und 1838 dort heiratete.
Sowohl Carl als auch Eduard scheinen schon in jungen Jahren nicht über die allerbeste Gesundheit verfügt zu haben. Carl hatte sich um 1830 mit der roten Ruhr infiziert, deren Folgen ihm lange zu schaffen machten, 1833 musste er deswegen einige Monate auf Kur nach Bad Sulz. Während des Kuraufenthalts sollten sich dann endgültig die Weichen für seinen weiteren Lebensweg stellen: Spitzweg lernte in dieser Zeit den schwedischen Maler Carl Hansson kennen, der ihn bestärkte, den Apothekerberuf an den Nagel zu hängen und die Malerei professionell zu betreiben. Gezeichnet hatte Carl schon als Schulbub leidenschaftlich gern, wie aus Briefen an die Stiefmutter hervorgeht, die er immer wieder um Papier und Stifte bat. Hansson brachte Spitzweg dazu, sich an Ölfarben zu wagen. Von dem Profi motiviert, sollte es dann auch nicht lange dauern, bis Spitzweg sich nicht mehr als Apotheker, sondern als Maler fühlte, auch wenn er anfangs in Briefen noch über seine »Schmierereien« scherzte.
Dass er wenige Jahre später ausgerechnet mit seinem heute bekanntesten Bild, dem armen Poeten, bei einem Kunstwettbewerb in München durchfiel, hat Spitzweg Gott sei Dank nicht davon abgehalten, weiter zu malen und bis zu seinem Tod 1885 rund 1500 Gemälde und Zeichnungen zu erschaffen. Neben seinen Ölgemälden, für die er oft ungewöhnlich kleine Formate wählte – besonders gern zerlegte er dazu seine leeren Zigarrenkistchen und benutzte das Holz als Malgrund – fertigte Spitzweg auch Karikaturen für die humoristische Wochenschrift »Fliegende Blätter«, die ab 1845 in München erschien.
Eine Zeit lang sammelte Spitzweg Kochrezepte, die der für seine Nichte Nina Spitzweg mit Illustrationen versah. Damit nicht genug, versuchte er sich auch in der Dichtkunst. Zum Glück für die Nachwelt konzentrierte er sich aber dann doch auf die Malerei und entwickelte dabei das typische Spitzweg-Genre, das ihn von der Riege seiner malenden Zeitgenossen so unterscheiden sollte: Die pointierte Darstellung urmenschlichster Charaktere. Während das Gros seiner malenden Zeitgenossen sich in Landschaften oder brav-biedermeierlichen Familienszenen erging, die nach heutigem Geschmack oft kitschig und manchmal auch fad erscheinen, hat Spitzweg es geschafft, dass seine Bilder auch nach heutigem Verständnis noch witzig und lebhaft wirken.
Das liegt zum einen daran, dass er hauptsächlich Personen darstellte – einzeln oder in Gruppen, die er nicht in sterile, künstlich arrangierte Umgebungen platzierte, sondern mitten im »Tagesgeschehen« festhielt und zudem seine Szenen mit einer großen Menge an humoristischen Details ausschmückte. Die fallen einem zwar erst auf, wenn man seinen Bildern mehr als nur einen flüchtigen Blick gönnt. Dann aber wirken sie als eine Art Witzkatalysator, die dem dargestellten Motiv noch zusätzlichen Schwung verpassen.
Bestes Beispiel dafür ist der berühmte arme Poet: Hauptmotiv auf dem 1839 entstandenen Bild ist eine altersmäßig schwer zu schätzende Gestalt im Morgenmantel und Zipfelmütze, die halb sitzend, halb liegend, auf einer Matratze ohne Bettgestell im Eck einer kleinen Dachstube kauert. Quer im Mund eine Schreibfeder, auf dem Schoß ein Heft, scheint die Gestalt die nackte Wand anzustarren. Vor dem Schlaflager liegen einige dicke Folianten auf dem Boden – die dem glücklosen Dichter als »Ideenpool« dienen sollen, nachdem ihm selbst nichts rechtes einfällt. Neben den Büchern steht eine Pappschachtel, die – in Ermangelung von Mobiliar – zum Nachtkästchen umfunktioniert wurde. Über dem Dichter schwebt ein aufgespannter Regenschirm, der verhindern soll, dass Wasser durchs Dach tropft. Ein gemauerter Kamin ist der einzige Einrichtungsgegenstand in der Kammer. Dabei nagt der Poet schon so am Hungertuch – das übrigens auf einer Wäscheleine mitten im Raum hängt, dass er sich kein Brennholz mehr leisten kann, weshalb ihm nichts anderes übrig bleibt, als seine Bücher in den Kamin zu schieben.
Spitzweg sollte seine ganze Karriere hindurch mit Vorliebe skurrile Gestalten darstellen, womit er indirekt auch ein beredtes Zeugnis seiner selbst liefert, denn die Ähnlichkeit so manches Herrn auf der Leinwand mit seinem eigenen Konterfei ist gewiss kein Zufall. Carl Albert Regnet schreibt in seinem Buch »Münchner Künstlerbilder« 1871 über die Wirkung Spitzwegscher Bilder: »Wer wäre griesgrämig genug, um nicht wenigstens zu lächeln, wenn er Spitzwegs alte Junggesellen sieht, die nur aus Pantoffel und Schlafrock schlüpfen, um in die gewohnte Schenke zu wandern? Wie weltvergessen steht Jener auf der höchsten Leiter der Bibliothek, Bücher in der Hand, Bücher in den Taschen, Bücher unter den Armen, Bücher selbst zwischen die Beine geklemmt! Aber wir fürchten, er versäumt über seinem stillen Glücke die Stunde des Mittagsessens und dann wehe ihm! Der Haushälterin zorniger Redefluss ergießt sich unerbittlich über des Armen Haupt. Der im Aktenstaub alt gewordene Schreiber, der mit blödem [=schwachen] Auge seinen Kiel spitzt, oh er fühlt sich unzweifelhaft als ein Teil der weltregierenden Bureaukratie. Unser inneres Auge sieht aber auch die Kehrseite des Bildes: Darben und Sorgen und Not und ein einsames Sterbebett im Spital. Der alte Herr dort, der mit wollüstigem Behagen und doch mit Scheu und Ehrfurcht den Duft der Kaktusblüte in sich saugt, auf die er Jahre gehofft, jenes kleine Männchen, das mit einem Stückchen Zucker sein zutrauliches Vögelchen lockt, sie hofften, einst im Kreise sich lustig tummelnder Kinder zu sitzen, aber das Schicksal hat es anders gewollt.«
Carl Spitzweg sollte selbst lebenslang Junggeselle bleiben, und auch in seinen Bildern ist der ältliche, unverheiratete Herr oft als Motiv zu finden: als Hagestolz, als heimlicher Beobachter junger Frauen, als Einsiedler oder als schrulliger Forscher. Es spricht für Spitzwegs großen Humor, dass er die Eigentümlichkeiten von Junggesellen im fortgeschrittenen Alter auf die Schippe nimmt und sich damit auch über sich selbst lustig machen kann. Vielleicht war es seine große Lust am Reisen, am Entdecken, die ihn abgehalten hat, wie sein Bruder sesshaft zu werden und eine Familie zu gründen. Bis in die 1850er Jahre war Spitzweg fast pausenlos auf Reisen in Europa und dem vorderen Orient unterwegs, oft in Gesellschaft seines Malerkollegen Eduard Schleich. In seiner zweiten Lebenshälfte bereiste Carl Spitzweg dann nur noch Ziele im deutschen Sprachraum, war aber auch in dieser Zeit oft unterwegs; besonders gern hielt er sich im Gebirge auf. Obwohl der 1808 geborene Künstler zeit seines Lebens eine schwächelnde Konstitution hatte, erreichte Spitzweg ein Alter von 78 Jahren. Nachdem sein jüngerer Bruder Eduard 1884 verstorben war, ging ein Jahr später auch Carls Weg auf Erden zu Ende: Am 23. September 1885 stirbt der Künstler in seiner Münchner Wohnung an einem Schlaganfall. Beerdigt wurde Carl Spitzweg zwei Tage später auf dem Münchner Südfriedhof.
Susanne Mittermaier
19/2013