Jahrgang 2016 Nummer 15

Beim Schneewerl in Brandstätt

Ein Stall voll Raritäten: das Chiemgauer Schulmuseum

So dürfte eine ländliche Schulstube Mitte des 19. Jahrhunderts ausgesehen haben. (Alle Fotos: Hans Gärtner)
Aus dem Heimatdorf der Museumsleiterin: »Andenken«-Verslein in einem Poesie-Album, 1936.
Irmgard Schwoshuber (Jahrgang 1928) beim Signieren ihrer gedruckten Kindheitserinnerungen.

»Sie dürfen alles anlangen, was Sie sehen!« Das ließ sich der Besucher des Chiemgauer Schulmuseums nicht zweimal sagen. Gründerin Irmgard Schwoshuber braucht eine Gehhilfe auf Rädern. Stufen muss sie meiden. Aufs Betätigen der Hausklingel war sie nicht sofort an der Tür, um zu öffnen. Den Gang des Bauernhauses geradeaus durch, dann rechts, zweite Tür links. Ein großer, niedriger Raum des ehemaligen Stallgebäudes quillt über vor alten, längst nicht mehr gebrauchten Sachen: Schulzeug über Schulzeug! Eine Heizung fehlt. Man riecht's den Ausstellungsstücken an, die, nach und nach in die Hand genommen, schon etwas klamm sind. Und ein wenig angestaubt.

Das hindert den Besucher nicht, das eine oder andere Stück auszuwählen, zu betrachten und, der Weisung folgend, anzufassen. Gar nicht einmal, das erlaubt die Zeit gar nicht, eines der dicht im wandhohen Regal stehenden Schulbücher aus zwei Jahrhunderten. Die kennt der Eingetretene aus eigener Arbeit und Anschauung nur zu gut. Bekannte und seltene Titel sind dabei. Über manchen würde sich die kläglich bestückte pädagogisch-didaktische Abteilung einer Lehrerausbildungsstätte freuen. Lieber die ungewöhnlich reichhaltige Poesiealben-Ecke genau unter die Lupe nehmen! In schönster Lehrerschrift steht mit weißer Kreide ein Loblied aufs »ewig junge Poesie- Album« an einer Wandtafel. Die handschriftlich geführten und mit »Oblaten« beklebten Autogrammträger waren eigentlich nur für Mädchen. Die »wollten, dass sich alle ihre Mitschülerinnen verewigen. Mit Versen, bunten Glanzbildern und Zeichnungen …«

Dass es diese »Erinnerungsbüchlein« vor 1870 nicht auch schon gab, wie die Tafelanschrift informiert, stimmt nicht. Aber hier geht es nicht um historische Stichhaltigkeit. Auch nicht um Vollständigkeit. Diese kleine Institution auf dem flachen oberbayerischen Land, die kühn »Chiemgauer Schulmuseum« genannt wird, obwohl hier bei Tacherting der »Chiemgau«, drücken wir ein Auge zu, gerade einmal beginnt, ist in ihrer privaten Charakterhaftigkeit nichts als liebenswert.

Geschlagene vier Jahrzehnte war ihre Leiterin Hauptschullehrerin in Tacherting. Sie stammt aus Herbsdorf, Gemeinde Nußdorf, Landkreis Traunstein. Die Einheimischen sagen angeblich mundartlich »Hirschdoaf«. Irmgard Schwoshubers Mutter besaß also in »Hirschdoaf« den »Moasta-Hof«. Ihr Vater hatte dort eingeheiratet, er kam vom Schuhbeckhof in Frühling, Gemeinde Traunwalchen. Die »Irmin«, geboren 1928, wuchs mit vier Geschwistern auf. Ihr Heimatdorf bestand aus acht Bauernhöfen. Es gab keinen, den die wilde »Irmin« nicht von oben bis unten durchforscht hätte. Dass so eine wie die »Irmin« schnell den Namen »Dorfbesen« abkriegt, ist nicht verwunderlich. Einer von Irmgards Mitschülern, der die vorwitzige Art der Bauerndirn nicht mochte, nannte sie »Moastergscheidei«. Wegen ihrem dichten, dunklen Haar und ihrer gesunden hellen Gesichtsfarbe hieß Irmgard »'s Schneewerl«, was von »Schneewittchen« kommt. Sogar ihre Pasinger Professoren nannten sie so.

Rufen heute bei Irmgard Schwoshuber ehemalige Mitschülerinnen an oder schreiben ihr, würde sie, sagt sie, immer noch »Schneewerl« geheißen. Das einst volle, dunkle Haar der inzwischen 87-Jährigen steckt, wohl schon schütter und grau, in einem feschen lindgrünen Turban. Damit sitzt die betagte, fröhliche Museumsleiterin an ihrem Wohnküchentisch, als sie der Besucher, voller unvergesslicher Schulmuseums-Eindrücke, mit Brille lesend antrifft. Was hat er doch die letzte Dreiviertelstunde alles im Museum gesehen – und teilweise auch angelangt, durchgeblättert, ausprobiert!

Er kam sich vor wie zu Gast in einer alten, mit originalen Klappbänken ausgestatteten Landschule (wie sie der irgendwo angeheftete Druck eines bekannten Anker-Gemäldes possierlich eingefangen hat), die beinahe jedwede Schulutensilien stolz ihr eigen nennt: Schautafeln und Fleißbildchen, Schreibfedern und Schiefertafeln, Federhalter- und Setzkästen, Lobkarten und Quartettspiele, Stoffpuppen und Abc-Tücher, Pauspapier und Kinder-»Vater unser«, Firmungsgeschenke und Wallfahrtsbildchen, wächserne Abc-Täfelchen, Kinderund Schullesebücher, Anschauungsmaterial jeglicher Art, Liederbücher, Erstkommunionandenken (sogar ein weißes Kleid für die junge »Braut Christi« mit perlenbesticktem Täschchen und weiß bebänderter Kerze ist dabei, auch ein sehr spät-gotischer Hausaltar zum »Pfarrerspielen«), Musikinstrumente, Nähmaschinen, Handarbeits-Sets. Ein Körbchen voller Schusser steht mitten in altem, bunten Schulkram. Der beiliegende Zettel weist sie als »Murmeln« aus. So muss man die Ton- und Glaskugeln, einst beliebtes Kinderspielzeug, nicht erst den »Preißen«, die sich ins Chiemgauer Schulmuseum verirren, erklären.

Irmgard Schwoshuber hat ihr noch immer zugängliches, auf telefonische Anmeldung hin (08622-220) gern jederzeit geöffnetes Museum mit ihrer Familie selbst eingerichtet und bestückt. Nur immenser Sammlerfleiß und profundes Insiderwissen machen so etwas möglich. Der Sammeleifer reichte bis zu einigen praktischen »Maschinen«, die noch vor 50 Jahren in städtischen wie ländlichen Lehrerzimmern, keineswegs nur in bayerischen, standen, um »Abzüge« für die Schulkinder herzustellen zu können.

Mit Stolz zeigt Irmgard Schwoshuber, die dem bei ihren teils doch recht kostbaren Raritäten allein gelassenen Besucher voll vertraute, ihr neues Werk und bietet es an. 500 Exemplare ihres Büchleins »D' Moaster Irma oder Der Dorfbesen« ließ sie 2015 in Traunstein auf eigene Kosten drucken und in Chieming-Ising lektorieren. Es hat einen schönen Untertitel: »Wahrheitsgetreue Beschreibung der glücklichen Kinderzeit eines Bauerndirndls«. Der Ehemann, mit dem die unter die Schriftstellerinnen Gegangene drei Kinder hat, ist vor vier Jahren gestorben. Die beiden Töchter sind Studienrätinnen geworden. Sie traten gewissermaßen in Mutters Fußstapfen. Die eine gibt Kunst, die andere Musik.

Irmgard Schwoshuber, die auch nach der Pensionierung nicht ausließ, indem sie auf unterhaltsame Weise ihr Wissen um die »frühere Schul'« und das Brauchtum darum herum, geprägt von Bauernweisheit und Katholizität, an Erwachsene und Schulklassen im Museum und bei Vorträgen weitergab, schätzt sich glücklich, von ihren Töchtern umsorgt zu werden. Das Chiemgauer Schulmuseum ist ihr Werk. Wie das Büchlein, von dem sie immerhin schon zwei Drittel der kleinen Auflage los wurde. Eigentlich müsste sie noch eins nachschicken. Eins, das aufzeigt, wie sie zu all den Schul-Schätzen kam, die ihr Museum birgt und mit dem der Besucher frei umgehen darf. Wie er es eingangs von der Museums-Chefin hörte: »Sie dürfen alles anlangen, was Sie sehen!«


Dr. Hans Gärtner

 

15/2016