Jahrgang 2017 Nummer 48

Annette Kolb - Eine Münchner Weltbürgerin

Ein Porträt zum 50. Todestag

Annette Kolb war eine deutsche Schriftstellerin
Annette-Kolb-Gymnasium 1939
Annette Kolb starb am 3. Dezember 1967 in München. (Fotos: Repro Marietta Heel)
Das bekannteste, wenn auch wenig schmeichelhafte Porträt der Schriftstellerin Annette Kolb stammt aus der Feder von Thomas Mann, der sie in seinem Roman »Doktor Faustus« in der Figur der Jeannette Scheurl folgendermaßen beschrieb: »Von mondäner Häßlichkeit, mit elegantem Schafsgesicht, darin sich das Bäuerliche mit dem Aristokratischen mischte, ganz ähnlich wie in ihrer Rede das bayerisch Dialekthafte mit dem Französischen, war sie außerordentlich intelligent und zugleich gehüllt in die naiv nachfragende Ahnungslosigkeit des alternden Mädchens.« Dem »reizend inkorrekten Privatidiom « ihrer Romane bescheinigt Thomas Mann immerhin psychologische und musikalische Qualitäten, womit ihr Werk, so das spöttische Fazit, »unbedingt der höheren Literatur« zuzurechnen sei.

Ein Urteil, dem Armin Strohmeyr in seiner einfühlsamen, sorgsam erarbeiteten Biographie nicht widerspricht. Für ihn liegt die Faszinationskraft der Annette Kolb weniger in ihrer Sprachkunst als im Zusammenspiel disparater Einflüsse und Zeitströmungen, die sie als Tochter einer französischen Pianistin und eines Münchner Gartenarchitekten verkörperte. Wobei sie schon in den Anfangskapiteln ihrer Lebensgeschichte als »alterslose« Erscheinung gilt, sie das herbe, kapriziöse und zunehmend zerstreute »Fräulein« bleibt, das schon in jungen Jahren schüttere Haar unter dem Hut verborgen.

Annette Kolb wird am 3. Februar 1870 in München als dritte Tochter des Münchner Gartenarchitekten Max Kolb und der Pariser Pianistin Sophie Kolb Danvon geboren. Sie wächst in der Sophienstraße 7 in unmittelbarer Nähe zum Alten Botanischen Garten auf und erlernt während eines Internataufenthalts in Tirol neben ihren Muttersprachen Deutsch und Französisch auch die italienische und die englische Sprache. Ab dem Alter von zwölf Jahren besucht sie Therese Aschers Privatinstitut für Mädchen in München und lernt im literarisch-musikalischen Salon der Mutter die Münchner Gesellschaft kennen. Sie knüpft Kontakte zu international tätigen Künstlern, Literaten und Politikern und betätigt sich bald als Übersetzerin, Schriftstellerin und Theaterkritikerin, wobei ihr als »Tochter zweier Vaterländer« (Carl J. Burckhardt) die Vermittlung zwischen der deutschen und der französischen Kultur zum Lebensthema wird.

1889 veröffentlicht Annette Kolb auf eigene Rechnung mit dem Band »Kurze Aufsätze« ihr erstes Buch, dem jedoch kein großer Erfolg beschieden ist. Ganz anders ihr Romandebüt »Das Exemplar« (1913), das große öffentliche Anerkennung erfährt und mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet wird. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs vertritt Annette Kolb immer wieder ihre politische Position in der Öffentlichkeit. Vor der Literarischen Gesellschaft in Dresden hält sie 1915 ihre erste pazifistische Rede, die einen Tumult auslöst. 1916 veröffentlicht sie die »Briefe einer Deutsch-Französin«, in denen sie für eine Aussöhnung und Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich plädiert. Daraufhin wird sie vom bayerischen Kriegsministerium mit einer Briefsperre sowie einem Ausreiseverbot belegt. Nur dank der Intervention des damaligen Außenministers Walther Rathenau gelingt ihr 1917 die Ausreise in die Schweiz. Hier findet sie schnell Zugang zu gleichgesinnten Kreisen und lernt unter anderem Hermann Hesse, Harry Graf Kessler und Carl Sternheim kennen. Die Schweiz ist für sie »wie ein herrlicher, aber auch (…) nach allen Seiten hin verbarrikadierter Garten«; in ihrem Buch »Zarastro« (1921) erzählt sie von dieser Zeit. Im Februar 1919 nimmt sie in Bern als Beobachterin am 1. Internationalen Arbeiter- und Sozialistenkongress teil, noch im selben Jahr kehrt sie nach Deutschland zurück.

Annette Kolb lässt sich im Kurort Badenweiler im südlichen Schwarzwald nieder, wo sie ihre journalistische Tätigkeit ausdehnt und für viele Zeitungen schreibt. Ihr Nachbar ist der deutsch-französische Schriftsteller René Schickele (1883 bis 1940), mit dem sie eine enge Freundschaft verbindet. Wenige Tage nach der Machtübernahme durch die Nazis geht sie 1933 erneut ins Exil. Ihre Flucht führt sie zunächst in die Schweiz, es folgen wechselnde Aufenthalte in Luxemburg, Frankreich und Irland, bis sie 1934 eine Wohnung in Paris bezieht, wo sie kurz darauf auch die französische Staatsbürgerschaft erhält. Nach dem deutschen Überfall auf Frankreich flieht sie im Alter von 71 Jahren über Spanien und Portugal nach Amerika. Wochenlang sitzt sie in Lissabon fest, bevor sie einen Platz in einem Flugzeug nach New York erhält. In einem Brief an den befreundeten Schriftsteller Hermann Kesten (1900 bis 1996), der ein Jahr zuvor in die USA geflohen war, berichtet sie von ihren Sorgen und finanziellen Nöten: »Nun bin ich eine Woche hier und zog schon 4 Mal um, von einem vorbestellten Zimmer ins andere. Und weiß nicht, wann und ob ich von diesen Gestaden fortkomme. Schiffe alle überfüllt, Clippers, die immerzu ausfallen oder für Post reserviert sind ...«

In New York wohnt sie zunächst im Hotel Bedford, später an wechselnden Orten, bis sie 1942 dauerhaft in ein Apartment in der 57 East 73 rd Street zieht. Das extreme Kontinentalklima macht ihr zu schaffen: Häufig ist sie krank und darüber hinaus völlig mittellos. Im Sommer 1944 schreibt sie an eine Freundin: »Ich bin zu alt, um anderswo Wurzeln zu schlagen, obwohl ich dieses Land bewundere, und ich weiß, obwohl es mir hier persönlich sehr schlecht ging, weil ich mit meiner Arbeit keinen Erfolg hatte, werde ich nach vielem hier Heimweh haben, wenn ich weggegangen sein werde.«

Im Oktober 1945 kehrt sie zurück nach Europa – und wohnt bald wieder in Paris, wo es der großzügigen Hilfsaktion ihrer französischen Freunde zu verdanken ist, dass Hinterlassenschaften aus ihrer alten Wohnung – Bücher, Bilder und Briefe – in Sicherheit gebracht werden konnten. In den folgenden Jahren pendelt sie zwischen Paris und München hin und her, bevor sie im Mai 1961 wieder endgültig an die Isar zieht, wo Erich Kästner sie respektvoll als »erste Dame Münchens« bezeichnet. Sie wird in die Bayerische Akademie der Schönen Künste aufgenommen, ihr Lebenswerk und ihr ständiges Bemühen um die deutsch-französischen Beziehungen werden neben anderen hohen Auszeichnungen mit der Erhebung zum Ritter der französischen Ehrenlegion, dem Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland und dem Orden Pour le Mérite geehrt.

Die Romane Annette Kolbs tragen autobiographische Züge: »Die Schaukel« (1934) beschreibt ihre Kindheit in München, »Daphne Herbst« (1928) und »Das Exemplar« (1913) beschreiben Erfahrungen ihrer Jugend, die Tagebuchromane »Zarastro« (1921), »Glückliche Reise« (1940) und »Memento« (1960) die Jahre im Exil. Die Biographien »Mozart« (1937) und »Schubert« (1941) zeugen von Annette Kolbs musikalischer Erziehung und Begabung. Ihre letzte große Reise führt sie im März 1967 nach Israel, am 3. Dezember desselben Jahres stirbt sie in München. Ihr literarischer Nachlass mit über 1800 Briefen und mehr als 150 Manuskripten dokumentiert ihre große literarische, politische und gesellschaftliche Bedeutung als Weltbürgerin und Vermittlerin zwischen verschiedenen Welten. Ihr Grab befindet sich auf dem Bogenhausener Friedhof, an der Beerdigung nimmt auch eine Abordnung des Traunsteiner Annette-Kolb-Gymnasiums teil.

Ebenfalls anlässlich ihres 50. Todestages sendet das Bayerische Fernsehen am kommenden Dienstag, dem 5. Dezember, um 22.30 Uhr einen Film über die Schriftstellerin, Untertitel: »Münchner Melange – Annette Kolb und ihr Geheimnis.« Interviews mit der Schriftstellerin (die Annette Kolb vor allem dem BR-Hörfunk gegeben hat) und mit Herzog Franz von Bayern, mit Percy Adlon und anderen, Bilder aus Annette Kolbs Welt, die Spuren einer nicht ganz beweisbaren Abstammung ihres Vaters vom Fürstenhaus – der Film macht dem Zuschauer diese ungewöhnliche, nonkonformistische und immer originale Schriftstellerin gegenwärtig.

 

Wolfgang Schweiger

 

Quellen: Irma Hildebrandt »Bin halt ein zähes Luder. 15 Münchner Frauenporträts«. Elisabeth Tworek »Literarisches München zur Zeit von Thomas Mann«. Faz.net. Bayerischer Rundfunk. Abdruck der Fotos von Annette Kolb mit freundlicher Genehmigung des Bayerischen Rundfunks.

 

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