Als die Amerikaner den nördlichen Chiemsee eroberten
In Chieming, Ising und Seebruck prallten Welten aufeinander – Pfarrer und Zeitzeugen berichten




Die Kluft zwischen arm und reich wird immer größer. Sie war auch in der Zeit des Zweiten Weltkriegs enorm groß – vor allem an dessen Ende. Das wurde vor allem dort deutlich, wo beide Pole aufeinandertrafen. Bei uns war das zum Beispiel Ising mit dem von einer wohlhabenden Familie bewohnten Schloss und vielen um ihre Existenz und ihr tägliches Brot kämpfenden Bauern rundherum. Wortgewaltig, sprachlich gewandt und extrem kritisch schilderte Expositus Georg Pfister diese Zeit, in der er an der Spitze der Pfarrei Ising stand. Das Erzbischöfliche Ordinariat hatte kurz nach Kriegsende alle Seelsorger aufgefordert, bis 1. August 1945 einen Fragenkatalog zu beantworten und das Ende der Kriegszeit in ihrer Pfarrgemeinde zu beschreiben. Pfister hat für den Bereich Ising-Seebruck einen Bericht verfasst, wie er lebendiger kaum sein könnte. Er schildert die Situation damals und spart nicht mit kritischen Anmerkungen. Hier Auszüge aus seinem Text in der damals gültigen Rechtschreibung. Die Zwischentitel haben wir eingefügt.
»Die Herrschaft des Nationalsozialismus, jenes seltsame Gemisch unersättlicher Menschen von oben (Nationalisten) und von unten (Sozialisten), dieser Firma für Kapitalsucht und Weltgeltung en gros und en detail ist zusammengebrochen, und zwar in einer so schmachvollen Weise, daß man an den Grabhügel Absalons in den Königsbüchern erinnert wird, wo ein jeder noch extra einen Stein dazu warf! Die Hinterlassenschaft ist ein Bankrott »en total« im Wirtschafts- wie im Geistesleben. Der Krieg an sich spielt dabei eine ziemlich untergeordnete Rolle … In wirtschaftlicher Beziehung ein Urteil zu fällen, ist deshalb so schwer, weil man vom Typischen allzu leicht ins Persönliche kommt. Aber andere Zeitverhältnisse, die mit stärkerer Hand das Gesunde geschützt hätten, würden nicht so viele mindergeleitete Wirtschaftsbetriebe hochkommen und Hochgekommene sich haben erhalten lassen. Das gilt von der Landwirtschaft und von manchen Geschäften oder Betrieben (Nationalismus = Schutz den »Geschwollenen«, Sozialismus = Schutz den »Unfähigen«, damit die »Geschwollenen« immer wieder Nährboden finden!). Das gilt in Ising für einige verschuldete Bauern einerseits, für das Gut andererseits.
Harsche Kritk an den Evakuierten
Die zahlreichen Evakuierten sowie sonstigen Kinder-Unterstützungsempfänger lachten nur, wenn man ihnen eine ernsthafte Arbeit zumutete. Sie erfüllten vielmehr die Straßen und Kaffeehäuser und Seeufer mit ihrem Geschnatter und herrschaftlichem Gestank. Manche Ansässige kamen auf den Gedanken, daß man mit den Händen in den Hosentaschen Fremdenzucht treiben könne, weil Vieh- und Pflanzenzucht ja so viel Mühe mache. Der Schmerz um die Gefallenen wurde wesentlich gemildert durch die Witwen- und Kinderunterstützung, die Sehnsucht der Kriegerfrauen durch fremde Männer. Über die eingesessene Bevölkerung kann in letzterem Punkt weniger geklagt werden, die Frauen waren mit Arbeit und Wirtschaftssorgen zu sehr in Anspruch genommen, umso mehr gilt dies für die Zugezogenen, denen die Fremde zum Erlebnis der Tarnkappe zu werden schien.
Es war erschütternd, wie in den ersten Maitagen die letzten Soldaten der Deutschen Wehrmacht Dörfer und Straßen durchzogen. Draußen Regen und Schnee, drinnen die Herzen voller Trostlosigkeit und Not. Kein Ziel und keine Heimat – sinnlos die ganze Welt. In dieser Sinnlosigkeit wurden viele kostbare Güter und Apparate, zahllose Personen- und Lastkraftwagen von den eigenen Leuten in die Luft gesprengt oder unbrauchbar gemacht, und was noch liegen blieb, das wurde von der einheimischen Bevölkerung und besonders der Jugend zerstört und geraubt. In Ising steht noch ein Omnibus mit gestohlener Vorderachse, kunstgerecht aufgebockt, und gestohlenen Motorkolben, und die Sitze des Leders beraubt. Sonst soweit komplett...
Dabei ist zu bemerken, daß die einrückenden Amerikaner überhaupt kein Interesse zeigten für irgendwelche deutsche Einrichtungen und Apparate, ja nicht einmal die erst vor einigen Monaten eingerichtete, oberirdische Kabelleitung in Anspruch nahmen, sondern ihre eigene Leitung daneben hinführten. Aus den verlassenen Kraftwagen wurden Lebensmittel in Mengen von der Bevölkerung geborgen, so daß manche in der Sorge vor Verderbnis sich selbst den Magen verdarben.
Im Schloße zu Ising waren etwa 10 000 (zehntausend) Garnituren Bettwäsche und Wolldecken von der Polizei in München eingelagert, zu einer Zeit, da man den Leuten das letzte Stückchen Hemd unten wegziehen wollte und die Zivilkleider der Soldaten enteignete, diese wurden sinnlos von einem Oberarzte, der einige Tage dort ein Lazarett leitete, verschleudert. Er wollte die Bestände vor den Amerikanern schützen und ließ sie an die Bevölkerung austeilen, soviel ein jeder schleppen konnte. Besonders die Evakuierten wurden reichlich damit bedacht und hatten kostbares Hamstermaterial damit in Händen. Denn zum Verhamstern mußte alles dienen, ein Leinentuch galt soviel wie 30 Eier! Daß der Oberarzt schließlich von einem Amerikaner eine Ohrfeige einstecken mußte. Habeat sibi! Ach, die Angst vor den Amerikanern war bei den einen so groß, wie die Freude und Genugtuung bei den andern, als sie endlich kamen.«
In seinem Tagebuch schreibt Georg Pfister weiter, in Ising sei der Einmarsch recht friedlich vor sich gegangen, »geplündert wurde lediglich der Weinkeller des Schlosses, bei einzelnen Bauern machten sich Polen und Franzosen vorübergehend unliebsam bemerkbar. Am 3. Mai wird um 16 Uhr die Rotkreuzfahne auf dem Isinger Kirchturm gehißt. Kein Wehrmachtsangehöriger darf sich mehr in Ising aufhalten. Alle Häuser tragen weiße Fahnen mit Ausnahme des Pfarrhofs, der nicht gehißt hatte, da überflüssig. Bürgermeister Baumgartner wird abends 7 Uhr nach Seebruck befohlen, wo Amerikaner eingerückt sind. SS wollten die Alzbrücke sprengen, sind aber nach Traunstein abgezogen. Am 5. Mai sind Panzer durch Thauernhausen gezogen und haben angeblich 400 SS-Leute gefangen. Mittags kommen einige Amerikaner auf Motorrädern nach Ising, entwaffnen die Lazarettinsassen und zerschlagen einige Gewehre und Pistolen an der Telefonsäule beim Pfarrhofgarten. Im ganzen Ort kein Wasser, außer im Pfarrhof, dessen Brunnen umlagert ist. Am 9. Mai werden etwa 120 Verwundete aus dem Schloss nach Traunstein gebracht. Das Pflegepersonal bleibt vorläufig. »Mesner« Wimmer wird 2. Bürgermeister (»Ernährungsminister«). Über den 11. Mai steht im Tagebuch: Nachts Amerikaner vom Pfarrhof abgezogen. Hinterließen einen Dankesbrief für die erwiesene Gastlichkeit und 100 RM für die Kirche.
Der Pfarrer gab keine »Persilscheine« aus
Das Einvernehmen mit der Besatzung ist gut und beiderseits entgegenkommend. Anfangs versuchten verschiedene (sehr verschiedene Leute) ein Attest ihrer Unschuld vom Seelsorger zu erlangen, bis das auf wiederholtes Ablehnen aufhörte. Seit Februar besteht in Ising ein Altersheim mit anfangs 8, später 40 Personen, die sich alle heim- oder fortsehnen, da die Leitung in den Händen einer Laienschwester aus dem Norden völlig versagt. Feldwebelton kann Caritas nicht ersetzen.
Expositus Georg Pfister schreibt weiter: Die vergangene Zeit ist leider an der Bevölkerung nicht so spurlos vorübergegangen, wie manche gerne sehen möchten. Die Ehrfurcht vor dem Menschen und fremdem Besitz ist weitgehend gewichen. Besonders Evakuierte und andere Gäste beschämten unser Volk durch ihre eigene Scham- und Ehrlosigkeit vor den Amerikanern, sie flacken wie faule Schweine am See und stehen gierig an den Lagerfeuern, ob nicht ein Stück Schokolade oder dergleichen ihre Gaumenlust befriedigen könnte. Auch träumen sie, vielleicht doch einen zu finden, der sie mitnähme in ein fernes Land.
3000 Soldaten warteten in Chieming auf das Kriegsende
Über die letzten Kriegstage in Chieming berichtete der dortige Pfarrer Nikolaus Brandmayr am 20. Juli 1945 kurz nach Kriegsende. Der Geistliche beschreibt kurz und knapp die Tage, an denen die Amerikaner nähergerückt und schließlich am 4. Mai einmarschiert sind. Hier Auszüge aus seinem Bericht: Abgesehen von den allgemeinen Erscheinungen des Krieges hatte Chieming unter den Einwirkungen des Krieges wenig zu leiden. Am 4. November 1944 fielen in der Nähe von Chieming bei der Ortschaft Pfaffing 17 Fliegerbomben auf freies Feld und richteten in den nächstliegenden Häusern größere Fensterschäden und einigen Dachschaden an. Auch in der etwa 700 m entfernten Pfarrkirche wurden noch 2 Fensterscheiben eingedrückt. Der zweite Bombenabwurf erfolgte am 20. Januar 1945 bei Kleeham wieder auf freiem Felde ohne größeren Schaden anzurichten. Personen kamen dabei nicht zu Schaden.
Der Einmarsch der Amerikaner in Chieming am Freitag, den 4. Mai 1945, vormittags 9 Uhr vollzog sich kampflos. In den vorausgehenden Tagen hatten sich hier viele Truppen angesammelt, mit den hier weilenden Flaksoldaten etwa 2- bis 3000 Mann. Aber diese waren bereit, sich kampflos zu ergeben, nachdem auch die Führung, General von Axtheim, Chef des Generalstabes der Flak, einer Abteilung des OKW (Oberkommando der Wehrmacht), und der Standortkommandant Dubrau erklärt hatten, daß sie sich nicht verteidigen werden. Viele Soldaten vernichteten daher ihre Waffen und Munition oder warfen sie in den Chiemsee.
Die SS wollte den Ort verteidigen
Am 3. Mai früh trafen jedoch SS-Truppen ein, welche sich im Dorfe festsetzten und erklärten: »Wir werden uns verteidigen. Wir wollen uns nicht gefangennehmen lassen«. Sie verhinderten daher auch das Hissen der weißen Flagge. Als ihnen aber Benzin für ihre Autos zur Verfügung gestellt wurde, fuhren sie weg und Chieming war vor Zerstörung bewahrt. Die Übergabe der Truppen ging dann ganz ruhig und geordnet vor sich. In Laimgrub wurde ein Gefangenenlager errichtet, wo circa 3000 Mann zusammenkamen. Der Bevölkerung wurde gestattet, den Kriegsgefangenen Lebensmittel, vor allem warme Getränke zu bringen, wofür diese sehr dankbar waren.
So sind diese Tage für die Pfarrgemeinde glücklich vorübergegangen: niemand, weder Soldaten noch Zivilpersonen, wurde dabei verletzt oder getötet; auch Häuser wurden nicht beschädigt, der Gottesdienst wurde in keiner Weise gestört. Das Benehmen der Amerikaner dem Klerus gegenüber war anständig. Wenn auch unmittelbar vor dem Pfarrhof (auf Pfründegrundstücken) die Amerikaner ein Lager errichteten, so wurde doch der Pfarrhof respektiert und aus freien Stücken die Tafel »Off Limits« angebracht. Auch die Kirche wurde in keiner Weise verunehrt. Nur ein paar Fälle wurden bekannt, wo betrunkene Soldaten in Häuser eindrangen und Alkohol oder Lebensmittel forderten. Die katholischen Besatzungstruppen geben der hiesigen Bevölkerung sogar ein gutes Beispiel, indem bis heute jeden Sonntag eine große Zahl derselben zum Gottesdienst in die Kirche kommt, der von einem amerikanischen Feldkaplan gehalten wird.
Flugabwehrstation am Fuße des Venusbergs
Soweit Auszüge aus dem Bericht von Pfarrer Brandmayr an das Ordinariat. Ortsheimatpfleger Hubert Steiner hat noch weitere Informationen über jene Zeit zusammengetragen. Demnach wurde in Chieming unterhalb des Venusberges zur Ausbildung der Soldaten eine Flugabwehrstation mit Unterkunftsbaracken errichtet. Der Übungsschießstand befand sich am Chiemseeufer, im Bereich der jetzigen Campingplätze. Bei den Übungen mit den Flakkanonen wurde ein großer Luftsack mit einem Schleppflugzeug über den See gezogen, auf den das Zielschießen geübt wurde.
Es landeten auch Wasserflugzeuge auf dem See. Dabei kam es zu einigen Unfällen, bei denen etliche Fluggeräte zu Bruch gingen, weil sie erst am Ufer zum Stehen kamen, oder nicht mehr starten konnten, weil sich zu viel Wasser in den Schwimmern befand. Ein Flugzeug wurde dann im See versenkt und erst um 1948, mit schweren Winden aus dem Wasser gezogen. Die auszubildenden Soldaten wurden in Baracken untergebracht und verpflegt. In der knappen Freizeit besuchten sie die damalige Gaststätte Marienbad in Chieming, wo es oft lustig zuging, wie man in einem Gästebuch nachlesen konnte.
Eine Schilderung der Ereignisse beim Einrücken der Amerikaner ist Hubert Steiner noch aus Erzählungen in Erinnerung. Eine Gruppe von Soldaten, darunter auch Schwarze, drangen in ein Haus ein und durchsuchten alle Räume nach Waffen und Wertgegenständen. Die Mutter lag mit ihrem neugeborenem Kind im Wochenbett und fürchtete sich vor den Amerikanern. Vorsichtshalber hatten die Angehörigen alles wertvolle, vor allem Schmuck und Uhren, unter der Decke der Mutter versteckt. Als der Schwarze das Neugeborene sah, gab er zu Erkennen, dass er zu Hause auch Kinder hat und alle verließen ohne einen Schaden das Haus.
Als dann die Heimatvertrieben in Chieming eintrafen, wurden ihnen bescheidene Unterkünfte in den Holzbaracken zugewiesen. Viele Evakuierte aus den zerbombten Städten und Flüchtlinge wurden zwangsweise in Bauernhäusern einquartiert. Viele verdingten sich zum Kartoffelklauben bei den Bauern, da sie mit der ganzen Familie am Abend den verdienten Lohn und eine gute Verköstigung erhielten. Etliche Handwerker gründeten die »Chiemgauer-Heimwerkstätten«, um in ihren Berufen wieder eine Existenz zu schaffen. Es wurden unter anderem aus Konservenblech Ausstechformen für Plätzchen gefertigt, Holzdrechsler fertigten Kochlöffel und anderes Zubehör fürs Kochen. Aus Granatenhülsen formte man Blumenvasen oder Aschenbecher aus Messing.
Tüchtige Handwerker gründeten dann ihre Firmen in den aufgelassenen Baracken. Das waren eine Strickerei, die dann auch noch von den Söhnen weiterbetrieben wurde und eine Werkstätte mit Verkaufshilfen. Das erste Kino von Chieming wurde ebenfalls in einer dieser Baracken errichtet. Die damals überflüssigen Unterkünfte der Flüchtlinge wurden abgerissen und auf dem Gelände wurden später Parkplätze angelegt.
Klaus Oberkandler
19/2021