Jahrgang 2007 Nummer 51

Als das »Aicher Christkind« nach Inzell kam

Eine wahre Weihnachtsgeschichte im harten Winter vor 75 Jahren

Die Wunschlisten der Kinder an das Christkind werden immer länger, und die Erwachsenen wissen nicht, was sie einander schenken sollen, weil jeder schon alles hat. Doch vor nicht allzu langer Zeit, vor 75 Jahren, herrschte eine ganz andere Situation im Chiemgau. Allgemein war die Situation im Land schlecht in den Jahren nach Inflation und Weltwirtschaftskrise. Aber in manchen Bergdörfern, so auch in Inzell, war es wirklich schlimm. Ganze Familien, auch die Kinder, hungerten im Winter 1932/1933. Von einer anrührenden wahren Weihnachtsgeschichte inmitten dieser Not erzählt ein Zeitungsartikel vom Jahresende 1932, den der Inzeller Lehrer Hans Scheurl im Schularchiv gefunden hat.

»Das Aicher Christkindl kommt nach Inzell – Wenn Kinder mit Kindern fühlen….«, so der Titel des Berichts. »Manches Herz ist in den letzten Jahren hart geworden und manche mildtätige Hand hat sich geschlossen, durch verschiedenerlei Erfahrungen und Enttäuschungen irre gemacht am Gebot der Nächstenliebe«, schrieb der Autor und belehrte seine Leser: »Diejenigen aber, die ihre kleine Not für die größte halten, werden ihren Irrtum erkennen, wenn sie die Notschreie aus anderen Gegenden hören...«

Nun kommt ein Inzeller Schulkind selbst zu Wort. Der Bub Johann Nitzinger schrieb laut Zeitungsbericht am 7. Dezember 1932 verzweifelt einen Brief an die Schule in Aich bei Fürstenfeldbruck: »Liebe Schulkameraden! In Inzell herrscht große Not. Elend und Not werden von Tag zu Tag größer. Die Schulkinder haben keine guten Schuhe und Kleider mehr. Das Elend und die Not spüren auch die Kinder. Die Not grinst überall durch die Fenster. Wir haben in unserem Dorf schon 35 – 40 Arbeitslose. Diese warten am Zahltag vor dem Schulhaus um ein paar Mark zu bekommen. Sie bekommen 8 – 10 Mark. Von dem sollen sie leben und Kleidungsstücke kaufen. Wie soll das möglich sein? Überall ist Schmalhans Küchenmeister. Oft sagt die Mutter: »Ich habe keinen Pfennig Geld mehr zu Nahrungsmittel kaufen.« Die Bauern treiben Holzwirtschaft und Viehzucht. Der Holz- und Viehpreis ist gegenüber der Friedenszeit um die Hälfte gesunken. Der Bauer muss mehr ausgeben als er verdiehnt. Darum muss der Bauer Schulden machen und kommt so auf die Gant. 40 Bauernhöfe stehen vor der Versteigerung«, so die ungeschminkte Schilderung des Schulbuben. »Eure Väter sind doch besser daran«, spricht er seine »Schulkameraden« direkt an. »Sie können Getreide und Obst verkaufen. Darum bitten wir Euch um kleine Geschenke. Alles ist uns willkommen, gebrauchte Kleidungsstücke, gebrauchte Schuhe und Nahrungsmittel, mit solchen Sachen wäre uns gut geholfen. Wir wären Euch recht dankbar. Zu Schlusse grüßt Euch alle herzlichst Euer Schulkamerad Johann Nitzinger.«

Noch ein zweiter Brief soll von Inzell nach Aich gegangen sein, doch er liegt uns nicht vor. »Und jedes Wort dieser beiden Briefe grub sich in die kleinen Herzen der Aicher Schulkinder«, schreibt der uns unbekannte Journalist. Kaum hatte der Lehrer die Briefe von zwei Schülern verlesen lassen und war die Schule aus, sausten die Aicher Schulkinder heim, bestürmten ihre Eltern »und sammelten, als ob das Leben der Inzeller Kameraden wirklich von Minuten abhinge«. Schnell waren Kisten mit Mehl, Brot, Getreide, Kleidung oder Zucker voll gepackt, und die Pakete standen für den Transport nach Inzell bereit. Doch damit wollten es die kleinen Helfer nicht bewenden lassen. »Sie hatten zum ersten Male im Leben Briefe aus der Ferne erhalten und wollten nun diese, wie es ja auch die Großen machen, beantworten. So setzten sie sich flugs an das Schreibpult, die Schüler und Schülerinnen von der 3. bis zur 7. Klasse, und schrieben« ….erzählt der Bericht der uns unbekannten Zeitung und zitiert einige der zu Herzen gehenden und köstlich kindlich-naiven Begleitschreiben. Einige der Original-Briefe in gestochener Kinderschrift hat Lehrer Scheurl ebenfalls im Schularchiv entdeckt.

»Uns geht es auch nicht mehr so gut; aber doch geht es uns noch viel besser als Euch«, schrieb zum Beispiel Josepha Frießenegger. »Wir haben viel besseres Essen, bei uns gibt es nur hie und da Kartoffel und Milch. An Kleidung fehlt es uns auch nicht. Wir brauchen nicht frieren und haben nicht weit in die Schule. Wir haben feste Schuhe und warme Strümpfe.« Ein anderes Kind formulierte: »Als die Briefe vorgelesen waren, erkannte ich erst, was es um das Leben heißt. Es ergriff uns so, dass wir gleich eine Sammlung abhielten. Es ist bei uns die Not zu spüren, aber noch nicht so stark wie bei euch. Der Schnee ist bei uns nicht so viel wie bei euch. Da glaube ich schon, was der Schulweg bedeutet, wenn man keine ganzen Schuhe und Kleider hat. Aber ihr dürft die Hoffnung nicht verlieren. Es wird schon ein Paket komme.«

Zwei Schüler wunderten sich über die schöne Schrift der Inzeller. »Als wir hörten, dass bei euch so große Not herrscht, schlug uns das Herz in der Brust. Aber als wir die schöne Schrift sahen, bekamen wir wieder Freude. Denn dachten wir: Wenn ihr armen Kinder samt der großen Not so fleißig seid, müssen wir euch doch gewiß ein Paket schicken«, schrieb Joseph Rembold von der 6. Klasse. Ungewöhnlich für uns Heutige klingt auch dieser Briefanfang: »Ich staunte sehr, als der Herr Lehrer sagte: Heute sind zwei Briefe angekommen von euch von der Ferne! Wir dachten nicht, dass der Brief vom Gebirge kam.« Nicht nur den Inzeller Schulkindern, sondern auch dem Jesuskind schenkt ein anderes Aicher Schulkind seine Gaben. »Liebe Schulkameraden, lasst euch die Lebensmittel nur recht gut schmecken und die Kleidungsstücke sollen euch wärmen auf dem kalten Schulweg«, so sein herzlicher Wunsch.

Einige wenige ältere Inzeller, darunter Susi Fritz aus Paulöd, können sich noch gut daran erinnern, dass Pakete mit Kleidung, Geld und Lebensmitteln ankamen. Johann Nitzinger, Autor des zitierten Inzeller Briefes, ging im Dezember 1932 mit ihr in die 5. Klasse. »Er ist später im Krieg gefallen«, erinnert sich die 87-Jährige. »Die Kinder von mehreren Inzeller Bauern haben damals Briefe geschrieben«, erzählt Susi Fritz. Sie selbst stapfte als Schulkind einen Kilometer bis zum ersten Haus und zwei Kilometer bis ins Dorf durch den Schnee, der in diesem Winter besonders reichlich fiel. »Ich habe in meiner ganzen Schulzeit keinen Mantel gehabt, nur den Schal von meiner Großmutter. Wir hatten schafwollene Strümpfe und ein einziges Paar Schuhe.« Ihre Familie ging bei der Verteilung der Aicher Christkindl-Gaben leer aus. »Die anderen haben besser gejammert. Dazu war mein Vater zu stolz«, erklärt sie. Der Inzeller »Bund der Alten« bemühte sich, noch lebende Aicher Schüler aus dem Jahr 1932 ausfindig zu machen, um ihnen eine kleine Freude zu bereiten. Leider blieben die Nachforschungen bisher erfolglos, weil Aich bei der Gebietsreform zu Fürstenfeldbruck kam, die Volksschule in Aich aufgelöst wurde und in der Stadtverwaltung Fürstenfeldbruck niemand weiß, wo die Schulunterlagen von Aich verblieben sind. Max Pohl vom »Bund der Alten« hofft nun, dass vielleicht die Zeitung etwas bewirken kann.

Und so endet der historische Pressebericht, den Pohl für Interessierte kopiert und im »Bunten Ladl« in Inzell hinterlegt hat: »So wird heuer in dem stillen Inzell so manches Auge aufleuchten, das sonst glanzlos und sehnsuchtsvoll geblieben wäre. In Aich aber wird Weihnachten mit seinem Kerzenglanz hellen Widerschein in den Seelen der Kinder finden; denn sie haben weit Herz und Hand geöffnet und lassen ihre Weihnachtsfreude hinüberstrahlen in die Herzen der Inzeller Kameraden in den verschneiten Bergen.«

Veronika Mergenthal



51/2007