Als bayerischer Gaucho in den Weiten Patagoniens
Der Ruhpoldinger Valentin Fellner war drei Jahre im Dienst des Salzbarons






Als sich der Ruhpoldinger Valentin Fellner vor fünfzig Jahren aufmachte, um für drei Jahre als Wildhüter, sozusagen als »bayerischer Gaucho« nach Argentinien zu gehen, war das noch eine Sensation, die im Ort dementsprechend aufgenommen und kommentiert wurde. »Wos, da Lampi-Voit vom Grashof wandert aus«, hat es da von verschiedenen Seiten geheißen, um gleich darauf die Frage nachzuschieben: »Was duat denn der do drentn, so weit weg von dahoam?«. Wie man sich denken kann, gab es vielleicht auch hinter vorgehaltener Hand die eine oder andere unbegründete Spekulation. Wie meist in solchen Situationen, denn schon damals galt der Spruch: Nix gwiß woas ma ned, aber es kunnt scho sei.
Um es vorwegzunehmen: Valentin Fellner, nach dem elterlichen Anwesen »beim Lampl« im Ortsteil Zell auch Lampi-Voit genannt, ist nicht für immer ausgewandert. Bevor es ihn wieder nachhause in den Chiemgau zog, stand er, der eingefleischte Naturbursch mit jagerischen Ambitionen, festes Mitglied beim Stammtisch »D’Gamsblüatler« auf der Raffner-Alm und Trachtler bei den Miesenbachern, drei Jahre lang im Dienst des Salzbarons Adi Vogel auf dessen Estanzia (= Rinderfarm) Lago Hermoso in Patagonien in der Nähe zur chilenischen Grenze. Der clevere Geschäftsmann hatte sich 1958 mit dem Kauf zweier riesiger Ländereien, den Estanzien Lago Hermoso und Lago Meliquina in der argentinischen Provinz Neoquin (Gesamtfläche 80000 Hektar) einen lang ersehnten Jugendtraum erfüllt.
Nun, die jüngeren Leser unserer Beilage werden mit dem Namen Adi Vogel sicherlich nicht mehr viel anfangen können. Deshalb eine kurze Erklärung zu dem Mann, der als umschwärmter Partylöwe in München begann und später zu einer der schillerndsten Unternehmerpersönlichkeiten des deutschen Wirtschaftswunders aufstieg.
Generalkonsul und Ehrensenator der Universität Sheffield Dr. h.c. Carl Adolf Vogel, wie er sich im öffentlichen Leben betiteln ließ, hatte mit der zündenden Idee, normal gewonnenes Salz mit Eisen und Spurenelementen anzureichern und es als »Bad Reichenhaller Spezialsalz« zu vermarkten, ein lukratives Imperium aufgebaut. Dieses Monopol bescherte ihm Reichtum, Ansehen und Besitzungen wie das Hotel Goldener Hirsch in der Salzburger Getreidegasse und das Schlosshotel Fuschl am gleichnamigen See im Salzkammergut, um nur einige zu nennen.
Nicht zuletzt die Heirat mit der attraktiven Schauspielerin, dem Ufa-Star Winnie Markus (beide galten als das Traumpaar des Jetsets) eröffnete ihm zudem den Zugang zur damaligen High Society. Rauschende Feste wurden in Fuschl gefeiert, wobei sich Promis wie Audrey Hepburn, Yul Brunner oder die persische Ex-Königin Soraya die Türklinke in die Hand gaben.
Bei all dem Hang zum Glamour besaß der 1906 geborene Oberfranke Adi Vogel aber auch noch eine zweite Seite, einen Wesenszug, der die Ambivalenz dieses Mannes eindrucksvoll verdeutlicht: seine unbändige Liebe zur Natur und zur heimischen Tierwelt. Geprägt haben ihn schon früh die Streifzüge am Rande des Ochsenkopfs, wo er als zehnjähriger Bub zusammen mit dem Papa und dessen Jagdfreund auf dem Hochsitz gesessen ist und mit ansehen musste, wie die Auswirkungen des 1. Weltkriegs die Wälder leergefegt hatten. Dass die zunehmende Industrialisierung in der Folgezeit das Wild ebenfalls verdrängte und es dadurch seinen angestammten Lebensraum verlor, war ihm später ebenfalls ein Dorn im Auge.
Schon 1927, während der Volontärzeit in einem Exporthaus in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires reifte in ihm der Entschluss, europäischen Tierarten, vornehmlich zur Zucht ausgewähltem Rotwild, hier in den unbesiedelten Weiten Südamerikas artgemäße Bedingungen zu verschaffen. Denn, wie er beobachtete, gab es nur riesige Rinder- und Schafherden, andererseits bestand aber ein unübersehbarer Mangel an Großwild. Zwar gab es Hirsche der Gattung »Ciervos Colorados«, die noch zu Zeiten der österreich- ungarischen Monarchie eingebürgert wurden sowie einige autochtone (heimische) Hirschgattungen, die aber zunehmend der rücksichtslosen Wilddieberei zum Opfer fielen. Außerdem fehlte es an europäischer Hegeerfahrung in der Folge mit einer fortschreitenden Negativzucht.
Allerdings sollten noch drei Jahrzehnte ins Land gehen, bis der Salzbaron sein Vorhaben in die Tat umsetzen und ein großzügig angelegtes Wildreservat anlegen konnte, den »Parque Diana« am Nordufer des Lago Meliquina.
In enger Zusammenarbeit mit dem Biologen und langjährigen Leiter des Tierparks Hellabrunn in München, Heinz Heck (gest. 1982), gelang es in relativ kurzer Zeit, neben dem Rotwild auch selten gewordene oder vom Aussterben bedrohte Tierarten, zumeist aus dem Bestand des Tierparks selber, erfolgreich anzusiedeln. Dazu gehört der stolze Alpensteinbock (Zooleiter Heck hatte dieses Kunststück vorher bereits in den Berchtesgadener Alpen geschafft), das schnellfüßige Mufflon, das germanische Wildrind Wisent, die Himalaja-Wildziege »Tahr« sowie unsere heimische Gämse. Viel Beachtung unter den Experten fand auch die Einbürgerung der Davidshirsche, eine vom Jesuitenpater David im kaiserlichen Tierpark von Peking entdeckte Cerviden-Art. Während die Urbestände in Peking um 1900 restlos ausgerottet waren, kamen einige wenige Exemplare dieser Rarität mithilfe des Herzogs von Bedfort in europäische Gehege und Zoologische Gärten, wo eine Weiterzucht gelang.
Dass es für ein solches Projekt im Sinne der Tierhege und Jagd, noch dazu privat finanziert, einen gewissen Personalstand braucht, lässt sich bei der Weitläufigkeit der Ländereien ohnehin denken. Deshalb war der Salzbaron Adi Vogel stets auf der Suche nach qualifizierten, zuverlässigen Mitarbeitern aus der Landwirtschaft, den Wald- und Jagdberufen, die gewillt waren, sich für einen gewissen Zeitraum, fernab der Heimat, mit ihrem ganzen Engagement für das Wildreservat einzusetzen.
Valentin Fellner, der zu dieser Zeit als Waldfacharbeiter in Kreuth am Tegernsee angestellt war, nahm die Gelegenheit beim Schopf, um mal über den bayerischen Tellerrand hinauszuschauen. Mit Erfolg, denn er setzte sich prompt gegen sechs Mitbewerber durch.
Nach einer mehrmonatigen Testphase in Faistenau-Hintersee ging es am Allerheiligentag 1968 Punkt acht Uhr abends von Hamburg aus – mit flauem Gefühl im Bauch und einem argentinischen Frachter – über den Atlantik.
Nach Zwischenstopps in Antwerpen und Montevideo, der Hauptstadt Uruquays, erreichte die Mannschaft mit zwölf Passagieren nach drei Wochen auf See den Zielhafen Buenos Aires.
Neben der riesigen Mündung des Rio de la Plata, der sich hier ins Meer schiebt, blieb ihm bis heute die makabre Ankunftsszene in Erinnerung, als sie die oberen Spitzen des im Krieg havarierten deutschen Schlachtschiffs »Admiral Graf Spee« erblickten. Es ragte gespenstisch aus dem Niedrigwasser heraus, als wolle es allen Ankömmlingen sein Schicksal erzählen. Um die restliche Besatzung vor den Engländern zu schützen, wurde es 1939 auf Befehl des Kommandanten Hans Langsdorff versenkt. Zwei Tage darauf nahm sich Landsdorff das Leben, der Großteil der Besatzung ließ sich in der Gegend nieder.
Da denkt der Voit schon lieber an die lustige Äquatorüberquerung zurück, die genau am 18. November, seinem 30. Geburtstag, mit der obligatorischen »Taufe«, einem Umtrunk und kleinem Buffet gefeiert wurde.
Per Greyhound-Bus ging es 26 Stunden lang über Bahia Blanca ziemlich Non-Stop bis ins 1600 Kilometer entfernte San Martin de los Andes (benannt nach dem Freiheitskämpfer Jose’ de San Martin) und von da nochmal 40 Kilometer Richtung Westen zur Estanzia Lago Hermoso, die zum Nationalpark Lanin gehört. Der erste Blick auf seine neue »Wahlheimat« ließ alle Strapazen jäh abfallen, so gewaltig schön präsentierte sich die Landschaft mit den glasklaren Seen, den imposanten Gebirgszügen und den unglaublich dichten Wäldern aus kleinblättrigen Buchen, Zedern und sperrigem Bambusunterholz. Als dann noch die kleine Kirche St. Hubertus mit ihrem Zwiebelturm ins Blickfeld rückte, fühlte er sich fast »wie dahoam«. Einmal im Jahr, am Ostersonntag, zelebrierte ein Geistlicher, der eigens von San Martin heraufkam, die Auferstehungs- Messe. Berufsjäger Hans Neuner aus Leutasch in Tirol, mit dem Fellner heute noch freundschaftlichen Kontakt pflegt, steuerte auf dem kleinen Harmonium die musikalische Umrahmung bei.
Zur Anlage gehörten damals ein erstklassiges Hotel, ein großzügiges Jagdhaus, Gäste-Lodges, Jagdhütten, Personalunterkünfte, ein Sägewerk, eine eigene Stromerzeugung, ein Bewässerungsprojekt, die Sportfischerei sowie eine Koppel mit über 200 Reitpferden.
Doch für melancholische Gedanken blieb wenig Zeit, denn die Tage waren ausgefüllt mit den unterschiedlichsten Tätigkeiten. So hatte er sich um die Personaleinteilung, tägliche Arbeitskontrolle, Werkzeugausgabe zu kümmern. Außerdem half er bei der monatlichen Lohnauszahlung mit, die zwei Tage in Anspruch nahm. Die Analphabeten unter den Arbeitern quittierten die Belege mit ihrem Daumenabdruck. Zum Aufgabenbereich seiner Leute gehörte die Aufrechterhaltung und Instandsetzung der jagdlichen Infrastruktur. Auch da gab es eine Menge zu tun, denn Wanderund Reitpfade, Hochsitze und Gatterzäune mussten in Ordnung gehalten oder neu angelegt werden. Ohne reitbaren Untersatz wäre man in der Weitläufigkeit der Estanzia aufgeschmissen gewesen, und so verbrachte der Voit täglich Stunden im Sattel. Für weitere Strecken wie zum Einkaufen hinunter nach San Martin stand auch ein Jeep zur Verfügung. Der wurde auch bei Notfällen gebraucht, etwa, wenn die Gauchos untereinander Streit hatten und mit den Messern aufeinander losgingen. Meistens war dabei Alkohol im Spiel, und die Schnittwunden beträchtlich.
Zu schaffen machte den Wildhütern die ausgeprägte Wilderei. »Die gingen brutal vor, waren nur an den Trophäen interessiert, um sie teuer zu verkaufen«, erinnert sich Fellner und fügt an: »Mit denen war nicht zu spaßen«.
Wenn im März und April der Herbst auf der Südhalbkugel anbrach, kam für ihn die schönste Zeit des Jahres. Denn zur Brunftzeit herrschte reges Treiben auf der Estanzia, wenn internationale Jagdgäste ankamen in der Erwartung, einen kapitalen Hirsch zur Strecke zu bringen. Meist waren es betuchte Leute, Großindustrielle, Geschäftspartner des Salzbarons, aber auch der eine oder andere Politiker, die er als Jagdführer auf die richtige Fährte brachte. Der Voit enttäuschte sie nicht. 19 Hirsche, vom 16-Ender aufwärts, kamen da schon mal als Ausbeute zusammen. Einen Politiker hätte er gern in seine Obhut genommen, nämlich den legendären US-Präsident Dwight »Ike« Eisenhower. Der war schon Jahre vor ihm als Gast auf der Estanzia gewesen, jedoch »nur« an der Fischerei interessiert. Eisenhower verstarb im Jahr 1969. Apropos Politik: wie sehr die Machtspielchen um demokratisches Bemühen gegen die Militärjunta die damalige Führung beeinflussten, erlebte er am Rande mit. Während seines Aufenthalts kam es immerhin zu drei Präsidentenwechseln.
Aber das nur am Rande.
Für ihn stand nach zwei Jahren, die ohnehin viel zu schnell vergangen waren, die Entscheidung einer Vertragsverlängerung an. Weil die abwechslungsreiche Arbeit, der Kontakt zu Einheimischen und Kollegen, die Verständigung auf Spanisch so gut klappten, packte er nochmal ein Jahr drauf. Denn mittlerweile genoss er die Vorzüge des freien Lebens in dieser traumhaften Umgebung immer mehr. Er wohnte allein in seinem Haus, hatte sich sein eigenes Pferd, einen Rapp-Wallach, der auf den Namen »Wiskey« hörte, mit mexikanischem Sattel gekauft und ertappte sich hin und wieder, dass er selbst schon »südamerikanisch« dachte. So wurde auch für ihn die Lebensweise und der Tagesrhythmus mit dreistündiger Mittagszeit, der Siesta, zum Ritual. Jedem Arbeiter standen täglich satte eineinhalb Kilo Fleisch zu, das bereits zum Frühstück als Steak auf den Tisch kam. Hauptmahlzeit mit hohem sozialen Stellenwert war das Asado, die landestypische Grillmahlzeit am offenen Feuer, bestehend aus Rind oder Schaf, während abends der Puchero, ein pikanter Eintopf mit Gemüse und Fleischstücken, Süßkartoffeln usw. auf dem Speisezettel stand. Dazu gab es Fladenbrot, getrunken wurde hauptsächlich Mate-Tee, manchmal auch Wein oder Bier, das jedoch sehr teuer war.
Umgerechnet kostete damals ein Kilo Rindfleisch 1,50 Mark. Als die Preise anzogen, gab es einen Aufstand und die Erhöhung wurde wieder zurückgenommen, erinnert sich Fellner.
Von den vielen Erlebnissen, auf die der Ruhpoldinger »Auswanderer« zurückblicken kann, hätte eines allerdings verhängnisvoll für ihn ausgehen können. Als er während eines Kontrollritts am Unterstand der Wisente vorbeiritt, attackierte ihn ein aufgebrachter Bulle dermaßen, dass ihm nur noch die Flucht blieb und er dank seines schnellen Pferdes dem Wutschnaubenden in letzter Sekunde entkam. Hinterher wusste er warum: Im Unterstand lag ein kleines Kälbchen, das der Stier beschützen wollte.
Heute noch ist er stolz darauf, dass er gleich zu Anfang die tückische Fallenstellerei unterbinden konnte, bei der die Pumas, meist unerfahrene Jungtiere, qualvoll verendeten. Hier leistete der Ruhpoldinger viel Überzeugungsarbeit, dass es auch auf waidgerechte Art geht, den Bestand an Großkatzen zu dezimieren.
Nach der dritten erfolgreichen Hirschbrunft kehrte er seinem Gastland Argentinien dann doch den Rücken, obwohl eine weitere Option im Raum stand. Am 5. Mai 1971 trat Valentin Fellner die Heimreise an. Die Überfahrt mit der Eugenio C, einem italienischem Passagierschiff, führte über Rio de Janeiro, Lissabon, Barcelona zurück nach Genua. Im Gepäck brachte er die komplette Jagdausrüstung mitsamt Sattel und ein ganzes Füllhorn an Erinnerungen und Lebenserfahrung mit, die seiner Ansicht jeder junge Mensch, so wie er damals vor einem halben Jahrhundert, in der weiten Welt sammeln sollte.
Ludwig Schick
Quellennachweis: Dr. h.c. Carl Adolf Vogel, Estanzia Lago Hermoso. – Stefan Lyka: Die besten Rotwildreviere Argentiniens.
35/2017