200 Jahre Schulpflicht: Ende der »großen Finsternis«
Bayerische Dorfschullehrer hatten schweren Stand



Vielleicht hatte Kurfürst Max IV. Joseph das Vorbild seiner ehemaligen Heimat im Kopf, als er im Dezember 1802 eine Verordnung zur allgemeinen Schulpflicht verkündete, die 1803 in Kraft trat. Als erster Staat weltweit hatte das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken schon 1592 die allgemeine Schulpflicht für Buben und Mädchen eingeführt. In den meisten deutschen Staaten sollte es noch 200 Jahre länger dauern, bis der Unterricht für alle Kinder als verpflichtend festgeschrieben wurde. Während die meisten deutschsprachigen Territorien bei der Einführung der Schulpflicht in ihrem Herrschaftsbereich noch eine »17« im Datum stehen haben, geschieht der entscheidende Schritt in Bayern erst Ende 1802. Ein Grund, warum das Kurfürstentum in diesem Punkt hinterher hinkt, ist die konfessionelle Ausrichtung: Protestantische Staaten hatten sich, den Forderungen Martin Luthers gemäß, in Punkto Bildung und Aufklärung der breiten Bevölkerung von je her aufgeschlossener gezeigt als die katholisch geprägten Länder.
König Friedrich von Preußen hatte 1746 in seiner Schrift: »Histoire de mon temps« gar behauptet: »Bayern ist das fruchtbarste Land in Deutschland, und das mit dem geringsten Geist.« Der Lehrer und Schriftsteller Johann Melchinger – ein gebürtiger Badener – urteilte in seinem »Geographisch Statistisch- Topographisches Lexikon von Baiern« 1802: »Bis unter die Regierung Maximilian Josephs steckte Baiern in vielen wissenschaftlichen Fächern in großer Finsternis, die gewöhnlich allenthalben zu entstehen pflegt, wenn die Pfaffen sich des Hofes, des ganzen Landes und der Erziehung bemächtigt haben.«
Immerhin: Auch in München gab es schon Jahrzehnte vor der tatsächlichen Einführung der Schulpflicht erste Bemühungen zu Reformen im Bildungswesen. Der 1732 in Trostberg geborene Heinrich Braun, Benediktiner und Kanonikus am Münchner Liebfrauendom, war 1770 von Kurfürst Karl Theodor zum Landeskommissar fürs Volksschulwesen ernannt worden. Schon ein Jahr später forderte Braun eine allgemeine Schulpflicht für alle bayerischen Kinder; angesichts chronisch leerer Staatskassen verschwanden seine Pläne aber schnell in irgendwelchen Schubladen. Genauso übrigens wie in Preußen, dort aber immerhin ein paar Jahrzehnte früher. Und auch Friedrich des Großen böser Kommentar in Richtung Süden entpuppt sich als Bumerang, denn die Umsetzung der Schulpflicht in Preußen zeigte große Diskrepanzen in den verschiedenen Landesteilen: Im Jahr 1816 nahmen laut Statistik von den 2,2 Millionen preußischen Kindern nur jedes zweite tatsächlich den Unterricht in Anspruch, wobei Sachsen mit 80 Prozent die höchste Quote an tatsächlichen Schulbesuchern aufwies, während in Schlesien nur jedes fünfte Kind regelmäßig ein Klassenzimmer von innen sah. Große Unterschiede ergaben sich beim Thema Bildung in Bayern wie anderswo vor allem im Vergleich von Stadt und Land, und damit zwischen Bürger- und Bauernkindern. Dem neuen Gesetz zufolge sollten alle Buben und Mädchen flächendeckend »vom 6ten bis wenigstens ins vollstreckte 12te Jahr ihres Alters, die Schule besuchen. Die Schule soll das ganze Jahr hindurch von Mitte des Julius bis 8ten September, als der gewöhnlichen Aerndtzeit ausgenommen, unaufhörlich gehalten werden.« Doch für viele Kinder beschränkte sich die Arbeit auf dem elterlichen Hof nicht nur auf die Erntezeit: sie waren für die Eltern ideale, weil kostenlos, Arbeitskräfte bei der Beaufsichtigung kleinerer Geschwister oder zum Hüten des Viehs; viele Mädchen mussten zusätzlich auch noch kochen und waschen, wenn ihre Mutter wieder einmal im Kindbett lag oder womöglich schon gestorben war. Diese Arbeiten fielen oft auch außerhalb der Erntezeit an, weshalb die Ablehnung der Schulpflicht aus Sicht eines Bauern, der womöglich selbst nicht lesen und schreiben konnte, nachvollziehbar ist.
Aus Sicht des Staates gab es vor allem ein Argument für die Einführung der allgemeinen Schulpflicht: Jeder Bub war grundsätzlich potenzieller Kandidat für die Armee und sollte zumindest Grundkenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen besitzen, um für den inzwischen allgemein geltenden Militärdienst entsprechend gerüstet zu sein.
Von staatlicher Seite bedeutete die Schulpflicht, dass von nun an ein entsprechender Apparat für Verwaltung, Finanzierung und Kontrolle notwendig war. Dazu gehörte auch, anfangs beinahe aus dem Nichts, eine entsprechende Anzahl von halbwegs fähigen Lehrkräften »aus dem Hut zu zaubern«.
Während heutzutage ein Hochschulabschluss mit entsprechend gutem Notenabschnitt unerlässlich für die Anstellung an einer staatlichen Schule ist, gestaltete sich die Ausbildung der ersten Dorfschullehrer vor 200 Jahren noch auf einem Level, der nicht viel höher lag als das der kleinen Eleven. Ortsheimatpfleger Johannes Danner hat eine Schulchronik über Traunwalchen verfasst, in der er den Werdegang des ersten hauptamtlichen Lehrers Franz Deisenseers beschreibt: 1779 geboren, wird Deisenseer vom Pertensteiner Hofmarksrichter aufgefordert, eine Zeit lang die Salinenschule in Traunstein zu besuchen. Beim Oberschulinspektor Joseph Lechner in Siegsdorf musste er sich anschließend einer Prüfung unterziehen – ob mündlich oder schriftlich ist nicht bekannt – und damit war seine Ausbildung abgeschlossen. Da kaum ein Pädagoge von seiner Lehrtätigkeit allein leben konnte – das Gehalt speiste sich allein aus dem Schulgeld der Eltern, musste der Lehrer gleichzeitig als Organist, Mesner und manchmal sogar als Totengräber fungieren, wie im Fall Franz Deisenseers. Er ist zwar der erste »hauptamtlich« angestellte Lehrer, doch finden sich laut Danner in den Pfarrrechnungen Hinweise, dass auch in den Jahrhunderten davor, zumindest zeitweise, Unterricht stattgefunden hat. Mitte des 17. Jahrhunderts war sogar eine Frau tätig: »Der neu aufgenommenen Schuelmaisterin Catharina Däxerin, ihr jerlich gemacht und verwilligte besoldung bezalt, als 6 fl«, heißt es im Rechnungsbuch der Pfarrei aus dem Jahr 1659. In den folgenden Jahrzehnten sind weitere »Schuelmeister« aufgeführt für die Orte Matzing und Pertenstein, die mit zum Pfarrsprengel Traunwalchen gehörten. Ein weiteres Beispiel für eine frühe Landschule findet sich im nicht weit entfernten Otting: Der in Kammer geborene Bildhauer Balthasar Permoser hatte 1692 mit einer Stiftung von 1000 Gulden verfügt, dass damit eine »deutsche Schule« zu errichten sei (der Begriff »deutsche Schule« ist in heutigem Verständnis gleichzusetzen mit Elementarschule, damals zur Abgrenzung gegenüber »Lateinschulen«, also höheren Schulen gebraucht). Wahrscheinlich finden sich in der Mehrzahl der Pfarrgemeinden in unserer Gegend weitere Beispiele für frühen Schulunterricht, allerdings dürften dabei hauptsächlich religiöse Inhalte vermittelt worden sein.
Der erste schriftlich überlieferte Unterrichtsraum ist für Traunwalchen im 1675 neu erbauten Mesnerhaus zu lokalisieren, eine Zeit lang diente dann auch das Häuschen an der Frauenbrunnkapelle als Schule. Um 1770 hauste dort ein Eremit namens Alex Zemrath, dessen Stube gleichzeitig als Klassenzimmer benutzt wurde. Franz Deisenseer führte sein Amt bis 1834 aus und eigentlich war seit langem sein Sohn als Nachfolger vorgesehen, der auch schon einige praktische Ausbildungen als Aushilfe seines Vaters gesammelt hatte. Doch Deisenseer junior hatte die Abenteuerlust gepackt. Als der junge Prinz Otto nach Griechenland zog, um dort als König zu regieren, zählte Deisenseer zu den Leibgardisten, die den jungen Wittelsbacher in die neue Heimat begleiteten. Der Traunwalchner sollte Griechenland jedoch nicht lebend erreichen. Auf der Überfahrt erkrankte er schwer und starb, noch ehe das Schiff in Nafplion landete.
In Traunwalchen wechselten die Lehrer in den Folgejahren mehrfach. 1845 übernahm mit Philipp Heinrich der erste Lehrer mit Fachausbildung den Unterricht. Auch zu Zeiten Heinrichs, 50 Jahre nach Einführung der Schulpflicht, konnte ein Lehrer von seinem kargen Verdienst allein nicht leben. Wie die Rechnungen des 1852 neu erbauten Schulhauses zeigen, war das Gebäude mit Dreschtenne und Stall ausgestattet, was darauf schließen lässt, dass die Lehrersfamilie nebenbei eine kleine Landwirtschaft betrieb, ähnlich wie Handwerker, die sich so selbst versorgen und Geld für den Kauf von Lebensmitteln sparen konnte. War ein Lehrer verheiratet und hatte Kinder, stellte sich für die Familie wie auch für die Gemeinde das Problem, wer die Hinterbliebenen weiter durchfütterte, wenn der Lehrer vorzeitig starb. Renten im heutigen Sinn waren noch unbekannt, weshalb die Witwe und minderjährige Kinder meist auf Almosen angewiesen waren. Maria Heinrich bekam zum Beispiel nach dem Tod ihres Mannes Philipp, der 1866 im Alter von 55 Jahren starb, jeden Winter Brennholz von der gemeindlichen Armenfürsorge. Da sich die Versorgungsfrage für alle bayerischen Lehrer gleichermaßen stellte, schlossen sich Pädagogen früh zu regionalen »Witwen- und Waisenvereinigungen « zusammen. Die Vereinigung im Isarkreis wurde 1822 gegründet und zählte schon im Anfangsjahr 400 Lehrer, darunter auch Franz Deisenseer und Andres Heinrich, der Vater von Philipp. Da für dessen Witwe Maria Heinrich nach dem Tod ihres Mannes in der gemeindlichen Armenfürsorge außer Brennholz keine weiteren Leistungen aufgeführt sind, dürfte auch Philipp dem Verein angehört haben. Mit Hilfe von Mitgliedsbeiträgen wurde dabei nach dem Versicherungsprinzip jede Lehrerfamilie im Falle des Todes ihres Ernährers eine festgelegte Summe an Unterstützungsgeldern zuteil. Jedes Mitglied hatte, je nach Gehaltsstufe neun, sechs oder drei Gulden Eintrittsgebühr zu zahlen und danach einen jährlichen Beitrag von sechs, vier oder zwei Gulden. Starb ein Mitglied, erhielt seine Witwe in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine jährliche Unterstützung von 72, 54 oder 36 Gulden – analog zur jeweiligen Beitragsklasse. Söhne erhielten ein Drittel der jeweiligen Summe bis zum 18. Lebensjahr, Töchter ein Viertel bis zum Alter von 15 Jahren. Die Versorgungsregelung sollte aber nicht nur Familien im Notfall absichern, sondern auch dazu beitragen, das Ansehen der Lehrkräfte in der Gesellschaft zu erhöhen.
Auf der Gründungsversammlung des Vereins am 1. Oktober 1822 in Wasserburg kritisierte der Festredner Georg Vitzthum »dass es für den gesamten Lehrstand im höchsten Grade herabwürdigend ist, wenn die Hinterlassenen der Lehrer dem Bettelstabe überliefert, oder, gleich den Viehhirten, den Gemeinden zur Versorgung übergeben werden. ... Armut, auch mit der tadellosesten Sittlichkeit gepaart, gibt bei dem gemeinen und großen Haufen des Volkes kein Ansehen, dies lehrt uns die tägliche Erfahrung.« Der Lehrerberuf sei aber auch deswegen wenig attraktiv, weil die meisten der auf dem Land tätigen Pädagogen ihres geringen Gehaltes wegen zur Ehelosigkeit verdammt seien. Die Gemeinden würden aber nur deswegen die Verehelichung ihrer Lehrer verhindern, »weil sie fürchten, dass ihnen die Witwe und Kinder zur vollen Ernährung heimfallen dürften. Welche ehrliche Weibsperson würde in der Folge auf solche Art noch einen Lehrer ehelichen? «, beschreibt Vitzthum das Dilemma. Die Folge davon sei, dass ein lediger Lehrer sich eine weibliche Person suchen müsse, die für ihn die hausfraulichen Arbeiten erledige. Doch auch hier hätten sich, wie die Erfahrung zeige, immer wieder fatale Umstände ergeben: »War diese schon alt, so war damit meist wenig geholfen; war sie jung und gefällig –, wie bald ging es, wie es gewöhnlich schwachen Menschen geht, dass sie sich auf Abwegen verloren, und durch der Gemeinde zum Ärgernis wurden, woraus dann Misstrauen, Verleumdungen, Ungehorsam entstanden, die dem Schulwesen den unersetzlichsten Schaden brachten.« Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass später bei der Aufnahme von Frauen in den Lehrdienst das Zölibat explizit vorgeschrieben wurde. Wollte eine Frau heiraten, musste sie aus dem Beruf ausscheiden. Das hat sich ja inzwischen, dank der Gleichstellung erledigt. Ein Aspekt aber scheint schon immer ein großer Zankapfel gewesen zu sein, und daran hat sich auch bis heute nichts geändert, nämlich was den Schulkindern wie vermittelt werden soll. Das folgende Beispiel stammt aus dem Werk: »Heinrich Brauns Ehrenrettung gegen die Beyträge der Schul- und Erziehungsgeschichte in Baiern«, aus dem Jahr 1778. In diesem von ihm selbst verfassten Büchlein wehrt sich Braun gegen die Kritik, Ideen anderer Pädagogen in seinen Vorschlägen zur Reformierung des Schulsystems zu ignorieren: »Die verbesserte Buchstabiermethode, mit der man Kinder nicht lange aufhält, sondern geradezu auf das Lesen hinführt ist durch Erfahrung gut. Ob eine andere Methode besser ist, das ist ein Prozess, worüber sich bis zum geht nicht mehr streiten lässt. Wenn man nun eine gut gewählte Methode alle Augenblicke abändern und eingeführte Systeme in Schulsachen ummodeln will, so kommt nichts – gar nichts zu Stande«, argumentiert der 1732 in Trostberg geborene Geistliche und Pädagoge gegen die Einführung anderer Lehrmethoden. Seine Widersacher wiederum behaupten, Braun sei einfach nur eifersüchtig und missgönne Anderen den Erfolg.
Die Lehrer in den Dorfschulen hatten wahrscheinlich andere Sorgen, als sich um Streitereien auf theoretischer Ebene zu kümmern. Sie standen zunächst vor der großen Aufgabe, sich die nötige Autorität nicht nur im Unterricht sondern darüber hinaus in der dörflichen Gesellschaft zu erwerben; die Kinder hatten sich daran zu gewöhnen, jeden Tag stundenlang ruhig und aufmerksam im Unterricht zu sitzen und die Eltern mussten lernen, dass Schulpflicht von nun an ein genauso unumstößlicher Fakt war wie das Zahlen von Steuern, egal, ob man darin einen persönlichen Sinn sah oder nicht. Der König befürchtete jedoch nicht nur von Seiten der Landbevölkerung Ressentiments; auch bei seinen Staatsdienern war er sich offenbar nicht sicher, ob diese die korrekte Ausführung seiner Verordnung mit dem entsprechenden Eifer zu kontrollieren gedachten. Er verdeutlichte seinen Beamten deshalb noch einmal ganz ausdrücklich seine Absichten, »die ihnen über die Nothwendigkeit und Nützlichkeit Unserer Verordnung klar sein müssten, dass deren Befolgung mit allem Nachdrucke und anvertrauter Amtsgewalt gehandhabt werden solle, und würden diejenigen der strengsten Verantwortung unterworfen, bei denen Wir Widersetzlichkeit, Saumsal oder nachlässige Behandlung des Gegenstandes wahrnehmen würden.«
Da lesen sich die Texte, mit denen die frischgebackenen Schulkinder auf ihre neue Aufgabe vorbereitet werden sollten, zum Glück wesentlich netter. In einem Lesebuch für Stadt und Landkinder mit dem Titel »Der bayerische Kinderfreund«, erstmals veröffentlicht 1823, wird der – ideale – kleine Schüler so beschrieben: »Ein guter Schüler ist aufmerksam; er hört nur auf das, was der Lehrer sagt, und denkt nur an das, was er tun, oder begreifen und behalten soll. Ein guter Schüler kommt gern in die Schule, ist fleißig, ordentlich, reinlich, sittsam und friedfertig. Er kommt nie zu spät in die Schule, und er treibt sich auf der Straße nicht herum, sondern geht auf dem geraden Weg nach Hause. Ich will ein guter Schüler sein. Das Buch, worin ich lese, ist zu meiner Belehrung geschrieben. Es ist mir sehr nützlich, wenn ich mit Aufmerksamkeit und Nachdenken darin lese. Ich will mich bemühen, das Gelesene zu verstehen. Wenn ich etwas nicht verstehe, so will ich meinen Lehrer bitten, dass er es mir erkläre. … Jetzt wird es mir noch schwer, lange und anhaltend achtsam zu sein; Aber es wird mir künftig leichter werden, wenn ich am Anfang die Mühe nicht scheue. Aller Anfang ist schwer.« Wahrscheinlich wären auch heute noch alle Lehrer froh, wenn ihre Schüler einen derartigen Text in der ersten Klasse zu lesen bekämen – und es anschließend schaffen würden, das Gelesene zu beherzigen.
Susanne Mittermaier
14/2013