1949 herrschte große Wohnungsnot
Vor 65 Jahren begann der Bau Gänsbachsiedlung in Grassau – Teil II


Bereits im Januar 1949 trafen sich auf Einladung der Gemeinde Grassau die interessierten Siedler und wurden über die möglichen finanziellen Belastungen und auch die geplanten Bauten informiert. Der Gemeinderat beschloss, auch die Oberbayerische Heimstätten AG mit in die Planungen einzubeziehen. Kurz danach gab der Gemeinderat auch den Bebauungsplan für die obere Gänsbachwiese beim Architekten Dorn in Auftrag, der bereits bis zum März fertig wurde. Der Plan wurde umgehend an das Landratsamt weitergeleitet. Dazu stand in der Presse am 11. Juni 1949 in einem Bericht von einer öffentlichen Diskussion im Gemeinderat: »Eine Anfrage des Flüchtlingsvertrauensmannes von Hartenthal ergab, daß der Bebauungsplan für die Gänsbach-Siedlung seit 9. April, also seit rund zwei Monaten beim Landratsamt liege, obwohl der Plan bereits von der Regierung verabschiedet sei. Diese Feststellung löste einen lebhaften Protest aus, und es wurde davon gesprochen, daß diese Art einer Verzögerung der Siedlung wahrlich unerhört sei.«
Für die Siedlungswilligen hielt dann das Diözesan-Siedlungswerk mit dem Architekten Jantsch eine Informationsveranstaltung in Grassau ab. Das Werk versprach dabei, dass es eine Senkung des Eigenkapitalbedarfs von 15 auf 5 Prozent geben werde und besprach auch die Kapitalbeschaffung mit Hilfe von Pfandbriefen. Bei der Versammlung forderte Pfarrer Hausladen die Siedler auf, möglichst bald eine Siedlervereinigung zu bilden und sich dem Siedlungswerk anzuschließen. Zu dieser Zeit waren schon drei Häuser im Bau, auch wenn die vom Gemeinderat dringlich vom Landratsamt geforderte Vermessung noch immer nicht erfolgt war.
Für die anderen Teile der Gänsbachwiesen gab es auch weitere Interessenten. So wurde im Juni 1949 bekannt, dass sich die Oberbayerische Heimstätten-GmbH um ein Stück des Siedlungsgebietes beworben hat. Sie wollte nach Verhandlungen mit der Gemeinde und der Pfarrpfründestiftung noch 1949 einen Block mit zwölf Wohnungen zu je 45 Quadratmeter Wohnfläche errichten. Zugleich bekräftigte die Gesellschaft, dass sie auch bereit sei, die Bauten einzelner Siedler zu finanzieren. Dazu schrieb die Presse damals: »Wenn es auch schwer ist, sich heute mit dem Gedanken einer Wohnblockerrichtung, zumal in ländlichen Siedlungsgebieten abzufinden, so erscheint dies doch augenblicklich als der einzig gangbare Weg, um in kurzer Zeit möglichst viele Wohnungen zu schaffen. Es ist Sache der Architekten, die Wohnungen in ihrer Bauweise so den landschaftlichen Gegebenheiten anzupassen, daß sie nicht als Fremdkörper wirken.«
Der Gemeinderat beschloss in der Sitzung vom 9. September zudem, dass die Siedlervereinigung Grassau, die Erlaubnis erhält, für den Siedlungsbau am Gänsbach aus der Kiesbank in Reit den Kies kostenlos zu entnehmen. Damit wollte man den Siedlern helfen, kostengünstiger zu bauen.
Bei der Gesamtfläche für die Siedlung handelte es sich um 15 Tagwerk, welche von der Pfarrpfründestiftung provisorisch an die Gemeinde zur Vergabe an die Siedler weitergegeben wurde. Die Siedler erhielten den Grund zunächst für ein bis zwei Jahre zur Miete. Während dieser Zeit sollten sie den Hausbau vollenden. Sodann wurde ein Erbpachtvertrag über 99 Jahre abgeschlossen, der nochmals verlängert werden kann. Die jährliche Pachtzahlung liegt bei 80 Pfennig je Dezimal Grund (entspricht etwa 34 Quadratmeter).
Die Siedlung sollte etwa 100 Wohnungen schaffen. Bei der Gestaltung waren die Siedler völlig frei, lediglich forderte das Gesamtbild der Siedlung gewisse einheitliche Formen. So sollten die Dächer eine Neigung von mindestens 23 Grad haben, die Häuser einen Sockel von 20 cm, einen einheitlichen Naturputz und eine Vorgartentiefe von vier Metern.
Bei einer Norm von 40 DM Kosten je Kubikmeter umbauten Raum, ging man von Kosten von 20 000 DM für ein Einzelhaus, von 10 000 DM für ein Reihenhaus und von 8600 DM für eine Wohnung in einem Stockwerkhaus aus. Unterstützt wurde die Maßnahme durch Staatskredite, welche aber die Siedler mit einem Zinssatz von fünf Prozent belastete. Deshalb schreckten auch viele Siedlungswillige anfänglich vor dem Bauvorhaben zurück. Andere waren aber so mutig und nahmen die großen finanziellen Belastungen im Interesse ihrer Familien auf sich und gingen damit auch ein großes Risiko in schwerer Zeit ein.
Bereits im September war das erste Siedlerhaus fertiggestellt und bezogen. Dazu stand in der Presse: »Vergangene Woche ist der erste Siedler der Gänsbach- Siedlung in sein neues Haus eingezogen. Herr Gitzkan ist Flüchtling und hatte als dritter mit dem Bau begonnen. Zwar ist der Oberstock noch nicht fertig, aber das kommt schon noch; die Hauptsache ist: der erste Kamin der Siedlung raucht!« Die offizielle Grundsteinlegung folgte am ersten Oktober nachmittags um 17 Uhr. Die Feier erfolgte so spät, weil zuerst die offizielle Einweihung der Flüchtlingssiedlung Alpbachau in Schleching durch Weihbischof Dr. Anton Scharnagl erfolgte.
Danach fuhren die Ehrengäste nach Grassau zur Gänsbachsiedlung. Unter den Klängen der Grassauer Blaskapelle blickte zuerst Pfarrer Hausladen auf den Weg von den ersten Planungen bis zur Fertigstellung der ersten Häuser zurück. Danach las er die von Betti Osann geschmackvoll auf Pergament geschriebenen Gründungs-Urkunden vor:
»Im Jahre des Heiles Eintausendneunhundertneunundvierzig am ersten Oktober, dem Tage des hl. Remigius, wurde dieser Grundstein zur Siedlung am Gänsbach gelegt und von Seiner Exzellenz dem Hochwürdigen Herrn Weihbischof Dr. Anton Scharnagl geweiht. Da infolge des unglückseligen Zweiten Weltkrieges und durch die Ausweisung der Brüder und Schwestern aus ihrer Heimat jenseits der deutschen Grenzen die Wohnungsnot unerträglich geworden war, stellte das Pfarramt auf Ersuchen des Gemeinderates Grassau vierzehn Tagwerk Kirchengrund für Wohnungsbauten im Erbbaurecht zur Verfügung. Am ersten August dieses Jahres wurde eine Siedlervereinigung gegründet, die sich dem Katholischen Siedlungsund Wohnungsbauwerk der Erzdiözese München und Freising anschloß. Die Pläne fertigte Regierungsbaurat Richard Dorn, Architekt in Regensburg, die Bauoberleitung hat Diplom-Architekt Karl Jantsch in München. – Die Grundsteinlegung geschah im elften Jahr des Pontifikats seiner Heiligkeit des Papstes Pius XII. – Erzbischof von München und Freising war seine Eminenz der Hochwürdigste Herr Kardinal Michael von Faulhaber, Pfarrer von Grassau war Johannes Michael Hausladen, Bürgermeister Jakob Häringer, Vorstand der Siedlervereinigung Dr. Anton Steiner. – Gott gebe den Siedlern Glück und Segen, Glauben und Eintracht und schenke unserer Heimat Frieden und Wohlfahrt«.
Unterzeichnet war das Dokument von Weihbischof Antonius Scharnagl, Pfarrer Hausladen und Bürgermeister Häringer.
Anschließend zogen die Festgäste zum ersten begonnenen Haus, wo der Grundstein offiziell gesetzt wurde. Der Bischof weihte den Grundstein, versenkte die Bleikapsel mit der Urkunde und ließ sie einmauern. Mit den Worten »Möge dieses Haus fest stehen, wie die Berge unserer Heimat« und der Herabflehung des göttlichen Segens schlug er dreimal auf den Stein. Anschließend sprach Pfarrer Hausladen zu seinen eigenen Schlägen die Worte: »Für Glaube und Liebe, für Treue und Redlichkeit, für Gott und Heimat.«
Während des Baus der Gänsbach-Siedlung gab es in Grassau eine sehr lebhafte Auseinandersetzung um das Amt des Wohnungsamtsleiters. Hierbei kam es besonders zu heftigen Diskussionen zwischen den Flüchtlingsvertretern und den Vertretern der einheimischen Bevölkerung. Hierzu schrieb die Presse:
»Eine lebhafte und zäh geführte Debatte löste ein weiterer gemeinsamer Antrag der drei Parteien aus, nach welchen die Stelle des Wohnungsamtsleiters aufgehoben und der Gemeindesekretär zusätzlich mit dieser Arbeit betraut werden sollte. Nachdem sich letzterer völlig außerstande erklärt hatte, diese Arbeit auch noch zu übernehmen, griff schließlich der Flüchtlingsvertrauensmann ein. Er machte darauf aufmerksam, daß die Stelle des Wohnungsamtsleiters die einzige in der Gemeindeverwaltung sei, die ein Flüchtling einnehme; werde dieser einzige Flüchtling entlassen, so müßte gleichzeitig ein Einheimischer entlassen werden und stattdessen ein Flüchtling eingestellt werden. Der Antrag wurde zunächst zurück gestellt.« In der folgenden Gemeinderatssitzung mit den Beratungen zum Haushaltsplan 1949/50 prallten die Gemüter gerade bei diesem Tagesordnungspunkt zum Teil heftig aufeinander. Zum ersten Mal glitt die Debatte vom Sachlichen ins Persönliche ab. Schließlich wurde folgender Beschluss gefasst: »Der Antrag der CSU, SPD und Heimatblock, dem Wohnungsamtsleiter Bachmann zum 31. Dezember 1949 zu kündigen, wird mit 16:6 Stimmen angenommen. Obwohl der Gemeinderat mit der Tätigkeit des Wohnungsamtsleiters sehr zufrieden ist, da die Aufgaben gewissenhaft erledigt werden, muß der Gemeinderat die Kündigung aus finanziellen Schwierigkeiten aussprechen. Die Stelle des Wohnungsamtsleiters soll nunmehr zum 1. Januar 1950 für 100 DM monatlich ausgeschrieben werden. Durch diese Maßnahme spart die Gemeinde 475 DM für die Position 'Wohnungsamt'; der Betrag bleibt jedoch in voller Höhe im Ausgabenansatz und wurde auf Position 'Allgemeiner Wohnungsbau' umgeschrieben. Daraufhin wurde der Haushaltsplan 1949/50 mit 16 Stimmen gegen die eine Stimme der KPD angenommen. Er schließt im ordentlichen Haushalt in Einnahmen und Ausgaben mit je 105 694,20 DM und im außerordentlichen Haushalt mit 2220 DM ab.«
Der Haushalt beinhaltete auch einen Beschluss, dass aus dem Notgroschen- Aufkommen von 2500 DM ein Zuschuss an die Siedlergemeinschaft der Gänsbachsiedlung gehen sollte.
Am 24. November 1949 berichtete der Traunsteiner Kurier auch über die Aktivitäten der Nachbargemeinde Staudach zur Linderung der Wohnungsnot:
Keine Siedler aus fremden Gemeinden
»Die Nachbargemeinde Staudach-Egerndach hat für Siedlungszwecke ein 9 Tagwerk großes, staatseigenes Waldstück in ihrem Bereich vorgesehen. Der Freigabeantrag wurde jedoch von der Regierung abgelehnt und die Gemeinde auf die Grassauer Siedlung verwiesen. Daher stellte Staudach-Egerndach an die Gemeinde Grassau den Antrag, ihre 26 Siedlungswilligen auf dem Gelände der Gänsbachsiedlung bauen zu lassen.
In seiner letzten Sitzung am Freitag lehnte der Gemeinderat Grassau einstimmig diesen Antrag ab. Zweck der Gänsbachsiedlung sei es, die katastrophale Wohnungslage in Grassau zu bessern; eine Ansiedlung aus anderen Gemeinden, noch dazu in größerer Zahl, mache die Erreichung dieses Zieles unmöglich.«
Mit der Ansiedlung und Entwicklung der Körting-Radiowerke stieg der Bedarf an Wohnungen in Grassau so stark an, dass es notwendig wurde in den 60er Jahren Flächen für den Bau von großen Wohnhäusern auszuweisen. So entwickelte sich jetzt die Körting- Siedlung im Nahbereich zur vormaligen Gänsbach-Siedlung mit ihren kleinen Einfamilienhäusern.
Über die vergangenen 65 Jahre hat sich die Gänsbachsiedlung zu einem vollwertigen wichtigen Ortsteil der Gemeinde Grassau entwickelt. Leider ließen sich nicht alle anfänglich eingeplanten Wünsche verwirklichen oder langfristig sichern, wie der Badeweiher, der Kinderspielplatz oder auch die Geschäfte zur Nahversorgung. Durch die Ansiedlung der nahen Verkaufsmärkte und auch die Nähe zum Ortszentrum und dem Reifinger Badesee konnten diese Wünsche aber weitgehend ausgeglichen werden.
Durch die Namensgebung für die Straßen in dem Siedlungsgebiet, Banater-, Schlesier- und Sudetenstraße, hält die Marktgemeinde Grassau auch die Erinnerung an die Ursprünge der ersten Siedler in der Gänsbachsiedlung wach.
Olaf Gruß
Teil I in den Chiemgau-Blättern Nr. 48/2013
49/2013