1949 herrschte große Wohnungsnot
Vor 65 Jahren begann der Bau Gänsbachsiedlung in Grassau – Teil I


Nach Beendigung des II. Weltkrieges 1945 strömte eine Vielzahl an Flüchtlingen aus den zerbombten Städten und den Ostgebieten auch nach Oberbayern. Mit großer Anstrengung wurde so auch in den ländlichen Orten versucht, Wohnraum bereitzustellen.
Dazu wurde 1948 im Kaufhaus Hilger am Dorfplatz in Grassau ein eigenes Wohnungsamt eingerichtet. Mit dessen Leitung wurde Rudolf Jungwirth betraut. Durch die Herausnahme der Wohnraumlenkung aus dem Aufgabenkreis der Gemeindeverwaltung sollte die Gemeinde entlastet werden.
In der Gemeinde lebten zu dieser Zeit neben rund 2000 Einheimischen auch noch 1000 Evakuierte und 600 Flüchtlinge.
Es wurde auch ein eigener Wohnungsausschuss gegründet, der aus drei Einheimischen, Klapf, Baumgartner und Langenmayer, sowie zwei Flüchtlingen, Pilkan und Becker, zusammengesetzt war. Bemängelt wurde unter anderen, dass es in der Gemeinde rund 60 Räumlichkeiten gibt, welche als Wohnungen verwendet werden könnten, wenn sie von den Besitzern nicht als Abstellräume genutzt werden würden. Zudem wurde gegenüber dem Wohnungsamt im Hause Kaindl eine Geschäftsstelle für die Flüchtlinge eingerichtet.
Während viele Evakuierte hofften, schon bald wieder in ihre Heimatorte zurückkehren zu können, so dachten auch schon einige Familien der Heimatvertriebenen aus Schlesien und dem Sudetenland in ihrer neuen Heimat sesshaft zu werden. Darin wurden sie vor allem auch dadurch bestärkt, da sie in Grassau Arbeit in den örtlichen Schuhfabriken und auch in der Achental-Keramik gefunden hatten. Schon bald tauchten deshalb auch Gedanken in der Gemeinde auf, den Vertriebenen neuen Wohnraum zu schaffen.
Am 7. Juli 1948 legte die Wahlgemeinschaft, eine vor allem von Heimatvertriebenen unterstützte mit fünf Gemeinderäten im Grassauer Gemeinderat vertretene Wählergruppe, einen ausführlichen Antrag vor, in dem zum ersten Mal in konkreter Form die Möglichkeit einer Siedlung am Gänsbach aufgezeigt wurde. Es wurde darin zudem eine umgehende Entscheidung gefordert, um die Wohnungsnot in Grassau zu bekämpfen. Der Gemeinderat schloss sich diesem Antrag geschlossen an und fasste den entscheidenden Beschluss, Baugelände für eine gemeinnützige Siedlung zu beschaffen und bei dem Inhaber der Pfarrpfründe die Überlassung einer Fläche in Erbpacht auf 99 Jahre zu erwirken. Gleichzeitig bildete der Gemeinderat auch einen Bauausschuss, damit das Projekt auch zügig verwirklicht werden konnte. Er beauftragte schon bald Baumeister Hörterer mit der Vorplanung für dieses Siedlungsprojekt.
Am 22. September 1948 berichtete der Traunsteiner Kurier:
Grassauer Flüchtlingssiedlung soll erstehen
»Das Wörtchen 'soll' muß hier dick unterstrichen werden, denn die Verwirklichung dieses Projekts liegt noch in weiter Ferne, was aber die Gemeinde Grassau nicht hindert, es mit Tatkraft zu verfolgen und ihm in jeder Hinsicht, soweit eine Landgemeinde bei den heutigen Geldverhältnissen dazu in der Lage ist, Förderung und Unterstützung angedeihen zu lassen. Die Grundstücke, die für eine solche Siedlung in Frage kommen, gehören der Grassauer Pfarrpfründe; sie liegen zwischen den beiden Armen des Gänsbaches linker Hand der Autostraße, die von Grassau über Reifing zum Bahnhof Staudach-Grassau führt. Voraussetzung für die Inangriffnahme des Bauprojektes, dessen Entwurf von der Grassauer Baufirma Hörterer stammt, ist allerdings, daß die Regulierung des Gänsbaches, die vor Jahren begonnen wurde, vollendet wird (etwa 1 km), damit die Siedlungshäuser unterkellert werden können. Als Bauplatz ist die etwa fünf Tagwerk große obere Gänsbachwiese ausersehen, die zwischen der Barackensiedlung und der unteren Wiese liegt; hier sollen 16 Siedlungsstellen im Ausmaß von je 700 qm (20 Dezimalen) erstehen; eine Erweiterung des Einzelbauplatzes auf 800 qm ist möglich. Diese Siedlerstellen sollen je eine Familie aufnehmen, doch ist ein Ausbau des Obergeschoßes in späterer Zeit vorgesehen. Es würden für jede Familie ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und eine Küche, sowie die nötigen Nebenräume (Waschküche, Holzlege) zur Verfügung stehen. Die Häuser selbst sollen in bodenständiger Bauweise aus Bruchsteinmauerwerk oder Ziegeln erstehen, mit Balkon oder weit vorstehendem Dach, organisch gruppiert derart, daß sie eine Gartenanlage umschließen. Natürlich würde auch die Straße durch die Siedlung gebaut werden, wie man auch an die Errichtung von zwei oder drei lebensnotwendigen Geschäftshäusern, an die Anlage eines Kinderspielplatzes und eines Badeweihers denkt.
Die Hauptsache ist natürlich die Finanzierung, über die heute noch keine Ziffern genannt werden können, weil sich der Preis für das Baumaterial und die Höhe des Arbeitslohnes unter den gegebenen Verhältnissen augenblicklich nicht errechnen lassen. Auf jeden Fall müssen die Bezieher dieser Siedlerstellen, die in erster Linie Flüchtlinge oder Evakuierte sein werden, den größten Teil des erforderlichen Baukapitals selbst beibringen, außerdem müssen sie auch selbst mit Hand anlegen bei der Erstellung des Baues, um die Baukosten etwas zu verringern. Die »Gänsbach-Siedlung« wird nicht nur die Wohnungsnot der Gemeinde Grassau lindern, sondern auch eine Zierde für die Grassauer Landschaft sein.«
Im Frühjahr 1949 wurde eine der wichtigsten Voraussetzungen erfüllt, die Wiederbegründung der Gänsbach- Genossenschaft. Dazu schrieb die Presse: »Kürzlich wurde in Anwesenheit von Bürgermeister Häringer die 'Gänsbach-Genossenschaft' wieder ins Leben gerufen, die sich auch die Regulierung des Gänsbaches zum Ziel gesetzt hat. Diese Regulierung ist für den gesamten Ort Reifing, der bisher jährlich unter Überschwemmungen zu leiden hatte, und für die neue Siedlung von großer Bedeutung. Außerdem erfolgt durch sie eine Bodenverbesserung der anrainenden Gründe. Ferner läßt sich das Projekt als erste Notstandsarbeit der Gemeinde aufwerten. Ein am 1. 10. 1948 gefaßter Entschluß des Gemeinderates (Antrag G. Harbeck) nähert sich somit seiner Verwirklichung. Die 'Gänsbach-Genossenschaft' wählte sich als Vorstand Georg Schwaiger (Reifing) und als Stellvertreter Peter Biebel (Reifing).«
Olaf Gruß
Teil II in den Chiemgau-Blättern Nr. 49/2013
48/2013