Das Volk der Etrusker bleibt weiter rätselhaft
Die Antikensammlungen in München geben Einblick in ihre Welt






Von drei Pfeilen getroffen, setzt ein Löwe zum Sprung gegen einen imaginären Angreifer an. Der gebogene Körper ist bis zur letzten Sehne gespannt, die Mähne gesträubt, der Rachen aufgesperrt. Diese über zweitausend Jahre alte Bronze-Skulptur, die bei Arezzo in Mittelitalien gefunden wurde, steht zur Zeit auf einem hohen Sockel vor den Staatlichen Antikensammlungen am Königsplatz in München. Sie ist der Blickfang für die Ausstellung »Die Etrusker. Von Villanova bis Rom«, die bis Mitte Juli 2016 die Geschichte und Kultur des antiken Volkes beleuchtet.
Die Faszination, die bis heute von den Etruskern ausgeht, hat unterschiedliche Wurzeln, von denen eine ihre rätselhafte Herkunft ist. Sie erscheinen völlig unvermittelt im späten 8. Jahrhundert vor Christus in der Geschichte. Nach dem griechischen Historiker Herodot sind sie wegen einer Hungersnot unter ihrem Führer Tyrenos aus Lydien in Kleinasien in das Gebiet der Umbrer (heutiges Umbrien) im westlichen Mittelitalien eingewandert, was den stark orientalischen Einschlag ihrer Kunst erklären könnte. Eine andere Theorie hält sie für über die Alpen gekommene Indoeuropäer. Heute neigt die Forschung dazu, die Entwicklung der Etrusker in Italien selbst zu sehen, und zwar aus den prähistorischen Wurzeln der Bronze- und frühen Eisenzeit, der sogenannten Villanova-Kultur, wozu dann allerdings fremde Einflüsse griechischer und orientalischer Einwanderer hinzu kamen.
Auch das Verschwinden der Etrusker aus der Geschichte ist auffallend, nachdem sie jahrhundertelang die zentrale Macht in Italien gewesen waren. Dabei hat es einen etruskischen Staat im eigentlichen Sinne nie gegeben, sondern nur mehr oder weniger feste Zusammenschlüsse von Städten, so den Städtebund in Zentral-Ertrurien mit den Städten Veji, Tarquinia, Vulci, Caere, Chiusi und Vetulonia, einen zweiten Städtebund in der Po-Ebene, einen weiteren in Campanien. Während die Etrusker zumindest zeitweise mit ihren Schiffen das nordwestliche Mittelmeer beherrschten, mussten sie zu Land eine Reihe Niederlagen bei Auseinandersetzungen mit den Sabinern, Latinern und anderen Stämmen hinnehmen, und sehr bald erwuchs ihnen im aufstrebenden Rom ihr stärkster Feind, dem sie auf Dauer nicht gewachsen waren. Es ist unklar, ob sie nach verschiedenen Niederlagen aufgerieben und vollständig vernichtet wurden, oder ob sie – wofür vieles spricht – mit den anderen Volksgruppen Italiens zu einem neuen Volkskörper, dem römischen Staat, verschmolzen. Fakt ist, dass die Römer ihre wichtigsten Magistrats-Insignien von den Etruskern übernommen haben: das königliche Szepter, die Fasces (Rutenbündel mit Richtbeil), den Ehrensessel mit Elfenbeinverzierung und den goldenen Ehrenkranz für besondere Verdienste. Etruskisches Erbe ist auch das Orakelwesen und die Zukunftsdeutung mit Hilfe der Eingeweideschau von Opfertieren und die Auslegung des Vogelflugs.
Die Etrusker waren die ersten Städtegründer in Italien. Dafür wählten sie am liebsten Hügel an Flussläufen, an deren Abhängen sie terrassenförmig die Stadt anlegten. Sie wurde mit mächtigen Mauern umgeben und in ihrer Mitte ein Tempel gebaut. Am Ufer gegenüber entstand die Nekropole, die Gräberstadt. So hatten die Lebenden die Stätte ihrer Toten stets vor Augen. Um mit ihnen zu verkehren, legten sie einen Schacht an, in dessen Tiefe man sich den Vorfahren nahe glaubte. Beim Begräbnis wurde zu Ehren des Toten ein großes Fest mit Flötenspiel, Tanz und Pantomimen gefeiert. Bei der Freilegung der Friedhöfe fand man häufig ganze unterirdische Wohnungen mit kostbaren Geräten, Vasen, Schmuck und Bildern. Nach römischen Geschichtsschreibern war das ganze Leben der Etrusker auf das Jenseits ausgerichtet. Sie lebten nicht in den Tag hinein, sondern hatten immer ihr Ende vor Augen. Ihre Überzeugung, dass die Verstorbenen ihnen auch aus dem Jenseits beistehen und sie vor Gefahren schützen könnten, kommt in ihrer sorgfältigen Grabpflege zum Ausdruck.
Da kein vollständiges etruskisches Haus erhalten ist, stammt unsere gesamte Kenntnis von ihrem täglichen Leben aus den Grabgemälden, von den Grabbeigaben, den Reliefs auf Sarkophagen und Urnen sowie der spärlichen römischen und griechischen Überlieferung. Die Bilder und Reliefs zeigen Familienszenen mit Kindern und Haustieren, Fisch- und Vogelfang, Wettkämpfe, Gladiatoren- und Theaterspiele. Auffallend ist ihre Vorliebe für bemalte Vasen, für gravierte Spiegel und Goldschmuck. Sie bezahlten entwe der mit Tauschwaren oder mit Kupfererz, zunächst in Brockenform, später mit Kupfermünzen. Die Etrusker waren gute Kaufleute und zugleich gefürchtete Piraten, die mit ihren Schiffen bis in den griechischen Archipel vorstießen. Sie scheinen jedoch wenig kriegerisch gewesen zu sein, denn die Durchdringung des Landes ist augenscheinlich friedlich verlaufen.
Ein Sonderkapitel stellt die etruskische Sprache dar. Die wenigen erhaltenen Schriftzeugnisse – meist Inschriften auf Grabsteinen und Denkmälern – sind gut lesbar, weil sie mit griechischen Buchstaben geschrieben sind. Aber man kann sie nicht verstehen, es fehlt jede Ähnlichkeit mit irgendeiner anderen Sprache. Etruskisch gehört nicht zur indogermanischen Sprachfamilie. Bekannt sind Namen einzelner Götter, weil sie den Figuren auf Vasen und Spiegeln beigeschrieben sind. Der höchste Himmelsgott hieß Tinia, die Göttermutter war Uni. Im Gegensatz zur griechischen und römischen Religion waren die Gottheiten weder verheiratet noch hatten sie Kinder, sie waren also weit erhaben über menschlichen Bedürfnissen.
Eigens für die Ausstellung wurde die berühmte Grabkammer »Tomba del Triclinio« aus Tarquinia mit ihren wunderbaren Wandgemälden in München nachgebaut. Die farbenprächtigen Bilder zeigen ein Symposium (Trinkgelage) mit drei auf Speisesofas liegenden Paaren, mit Musikanten, Tänzerinnen und Tänzern. Wie man aus dem Katalog erfährt, war die Besonderheit eines etruskischen Symposiums die Teilnahme der Ehefrauen, während beim griechischen Symposium nur Prostituierte zur Unterhaltung der Männer zugelassen waren. Diese Griechen!
Die Ausstellung ist chronologisch aufgebaut, sodass man die Entwicklung der etruskischen Kunst und des Kunsthandwerks gut verfolgen kann. Die meisten Stücke gehen zurück auf die Sammeltätigkeit von König Ludwig I., dessen Interesse vor allem bemalten Vasen gegolten hat. Der früheste in Bayern nachweisbare etruskische Gegenstand ist ein Gefäß in Kopfform aus der Sammlung von Herzog Albrecht V., weitere Stücke kamen unter Kurfürst Karl Theodor mit seinem Umzug von Mannheim nach München. Nach Zwischenlagerungen in der Pinakothek und im Hofgartengelände wurden im Jahre 1967 alle etruskischen Werke in die Staatlichen Antikensammlungen am Königsplatz übertragen.
Julius Bittmann
39/2015